Sie haben ihre Wirkung – aber leider auch ihre Nebenwirkungen. Foto: dpa

Die Lektüre der Beipackzettel von Medikamenten kann ein Horrortrip sein zwischen moribunder Lyrik und atemberaubender Dramatik: ein völlig unterschätztes literarischen Genre jedenfalls.

Esslingen - Anders als der Bildungsroman, das Versepos, das bürgerliche Trauerspiel oder der Polizeibericht zählt der Beipackzettel zu den unterschätzten literarischen Gattungen. Dabei entfaltet er gerade in Zeiten der Pandemie und Pandämonie eine enorme aufklärerische Aktualität, auch wenn seiner Sprache teilweise eine überholte pharmakologische Regelästhetik anhaftet. So finden sich auf den raschelnden Begleitern von Pillen, Pasten und Präparaten immer noch formelhafte Wendungen wie „Im Todesfall wenden Sie sich an einen Arzt“. Doch solch barocker Memento-mori-Ballast sollte nicht den Blick verstellen auf die faszinierende Poesie der Neben-, Spät- und Langzeitwirkungen. Die Pillenpoeme übertreffen darin jeden Surrealismus an albtraumhaft kühner Motivverkettung. Einem Medikament zur Senkung des Augeninnendrucks etwa schreiben sich performative Aktionen vom schuppigen Hautausschlag über die Hellfärbung des Stuhls bis zu Suizidgedanken ein. Womit zugleich die alte literaturwissenschaftliche Streitfrage beantwortet wäre, ob der Beipackzettel zur Lyrik oder Dramatik zählt. Bei Lichte betrachtet ist er ein symptomatisches Gesamtkunstwerk, doch dominiert das Theatralische, und zwar in experimentellster Form: Kein abgefahrenes Avantgarde-Spektakel hebt mit vergleichbarer Radikalität die Trennung zwischen Zuschauer und Darsteller, Bühne und eigenem Körper auf. Da aber auf Beipacktragödien wie etwa den Blasenkatarrh stets die Katharsis folgt, die Läuterung des Schreckens zu gelassener Heiterkeit, markiert die Literaturgattung Beipackzettel die zivilisationsgeschichtlich entscheidende Station auf dem Weg von der Humoralpathologie zur Humortherapie. Natürlich nur, wenn man das Zeug nicht auch noch schlucken muss.