Regisseur Wilhelm Schneck (re.) probt mit Jugendlichen. Foto: Max Kovalenko

Tyrannen haben ihnen die Hoffnung geraubt: Flüchtlingskindern aus Syrien, Afghanistan, Algerien, Pakistan und dem Irak. Doch als Darsteller der Inszenierung „Revolutionskinder“ lernen sie wieder zu träumen. Von Freiheit und Frieden.

Tyrannen haben ihnen die Hoffnung geraubt: Flüchtlingskindern aus Syrien, Afghanistan, Algerien, Pakistan und dem Irak. Doch als Darsteller der Inszenierung „Revolutionskinder“ lernen sie wieder zu träumen. Von Freiheit und Frieden.

Stuttgart - Gegensätze haben Sprengkraft. Lautes Flüstern etwa. Im zischenden Flüsterton klingen Parolen besonders aggressiv. „Ich hab’ Wut im Bauch. Nichts als Hass für die Herrscher. Sie kommen mit Panzern. Wir sind ohne Waffen viel stärker. Wir schweigen nicht länger. Schreien raus, was uns stört. Holen unsere Freiheit.“

Gefühlt tausend Mal lässt Regisseur Wilhelm Schneck vom Ensemble Lokstoff etwa 40 Jugendliche diesen Text wiederholen. Theaterproben sind harte Arbeit. Vor allem, wenn Profis auf Amateure treffen. Schneck gestikuliert, reizt seine Mimik aus, predigt Textstellen und lobt. Er lobt unentwegt. Selbst leise Kritik („Sprecht langsamer, seeehr, seeehr langsam“) verpackt er in einer Aufmunterung. Schneck läuft bei den Proben zur Hochform auf. Vielleicht weil er zu den Wurzeln seines Berufs zurückkommt – das Elementare der Schauspielkunst erlebt. „Selten habe ich mich in meiner Laufbahn mehr auf Proben gefreut“, sagt er. So überträgt er seine Begeisterung auf die jugendlichen Laiendarsteller. Das Ergebnis verblüfft: Nach vier Stunden Proben sind alle noch fit. Keiner ist unaufmerksam. Die Bühne bebt. Man ahnt: Es entsteht wieder etwas Bewegendes – die „Revolutionskinder“.

Im vergangenen Jahr hatte das Stück, das vom Paritätischen Bildungswerk gefördert wird, in Stuttgart bereits große Wirkung erzielt. Alle 15 Vorstellungen in der Stadtbibliothek am Mailänder Platz waren ausverkauft. Darum zeigt das Ensemble Lokstoff, das auf Theater im öffentlichen Raum spezialisiert ist, nun vom 15. Mai an weitere zwölf Aufführungen. Allerdings bekommt das Stück durch die neue Besetzung der „Kinder“ eine „besondere Farbe“ (Schneck).

Statt Farbe hätte der Regisseur auch von Authentizität sprechen können. Von Echtheit. Denn durch die Besetzung mit sechs Jugendlichen aus Stuttgarter Flüchtlingsheimen bekommen die fiktiven „Revolutionskinder“ Nähe zur Wirklichkeit. Die Flüchtlingsbiografien von Nehal (16/Afghanistan), Zerevan (15/Irak), Nadza (21/Pakistan), Mesut (20/Algerien), Elia (21) und Mayyar (16/beide Syrien) sind ins Stück eingearbeitet.

Es kommt etwas zur Sprache, was einen beim Zuhören sprachlos macht. Denn die meisten dieser jungen Seelen sind verletzt, manche auch traumatisiert. „Das Schicksal des Mädchens aus Afghanistan lässt mich nicht mehr los“, sagt Kathrin Hildebrand, „ich fühle mich verantwortlich, ihr zu helfen.“ Auch wenn die Rollen viele Anteile der echten Schicksale haben, bleiben die Lebensgeschichten Fiktion. „Wir müssen die Jugendlichen schützen“, sagt Lokstoff-Schauspielerin Kathrin Hildebrand.

Das gilt auch für Nehal. Sie ist vor zwei Jahren mit ihrer Schwester Zahara aus Afghanistan geflüchtet. Sie hatten sich Schleppern anvertraut. Seitdem sind ihre Eltern verschollen. Ihre Schwester wurde vergewaltigt und hat seitdem zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen. Schreckliche Erlebnisse, die Nehal immer noch verfolgen. „Aber wenn ich Theater spiele, fühle ich mich gut“, sagt die 16-Jährige. Es ist eine Abwechslung zu ihrem Alltag im Flüchtlingsheim in der Tunzhofer Straße. Das Thema der „Revolutionskinder“ lässt sie träumen. Von einer besseren Zukunft. Für sich selbst und für ihr Heimatland. „Frieden und Freiheit in Afghanistan“, sagt sie schüchtern, „das wäre schön.“ Im Stück heißt Nehal Buran. Sie erzählt darin von den schönen Seiten des Hindukuschs, der Sehnsucht nach ihren verschollenen Eltern und ihrem Plan: „Ich will für Freiheit kämpfen.“

Damit ist sie weiter als die beiden syrischen Ensemblemitglieder. Nach diesem Proben-Sonntag können sie die Parolen der Revolutionskinder zwar laut und perfekt flüstern, aber sie glauben nicht daran. Wenn Elia und Mayyar voller Überzeugung im Chor rufen „Dies ist die neue Generation. Unser Land wird ein besseres Land“, ist das weit weg von ihrer wahren Überzeugung. Elia wirkt sogar wie versteinert, wenn er über Syrien spricht: „ Ich glaube nicht, dass es für mein Land eine Lösung gibt. Ich habe keine Hoffnung, keine Vision.“

Wer denkt da nicht an Mark Twain und seinen Ausspruch: „Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben, zu leben.“ Damit trifft der US-Autor den Kern der „Revolutionskinder“. Aber auch die Absicht der beiden Lokstoff-Gründer Wilhelm Schneck und Kathrin Hildebrand. Die Schauspielerin nennt es den „Schlüssel des Projekts“: „Wir sprechen in dem Stück über eigene Wünsche, über die eigene Identität in der Gesellschaft und das, was Jugendliche in dieser Gesellschaft bewegen können.“ All das wurde den sechs Flüchtlingskindern von den Tyrannen in ihrem Land geraubt. Aber zumindest in den Rollen als „Revolutionskinder“ keimt bei ihnen Hoffnung auf. In der letzten Szene singen sie: „Irgendwann wird sie schlagen, die Stunde der Geduldigen.“

„Revolutionskinder“ wird vom 15. Mai bis 27. September in der Stadtbibliothek am Mailänder Platz gezeigt. Die Karten kosten 21,50 Euro, 12 Euro ermäßigt. Informationen über 07 11 / 6 45 66 10 oder www.lokstoff.com.