Lesepremiere für Inge Stoll. Foto: StN

Aus gegebenem Anlass erscheint eine Geschichte aus dem Hier und Jetzt mit Leserin Inge Stoll.

Stuttgart - Die schönen Leser-Geschichten, die in dieser Spalte einen Ehrenplatz bekommen, spielen häufig im Gestern. Aus gegebenem Anlass erscheint eine Geschichte aus dem Hier und Jetzt. Hauptfigur ist Leserin Inge Stoll aus Stuttgart.

Eigentlich ist sie aus Aistaig im Kreis Rottweil. Dort wurde Inge Stoll vor bald 65 Jahren geboren. Als „Aistaiger Mädle“ fühlt sie sich bis heute. Auch als Bürgerin der Landeshauptstadt hat sie den Kontakt zu ihrer Heimat nie verloren. Mehrere Wochen im Jahr verbringt sie mit ihrem Mann Heinz in einem 350 Jahre alten Bauernhaus in Trichtingen, das 1993 zum schönsten Dorf Baden-Württembergs gewählt wurde. Heimat, das ist für Inge Stoll der Ort, wo man willkommen ist und „durch die Nachbarsgärten zum Schnittlauchschneiden gehen kann“. Vergangene Woche führte sie ihr Weg wieder in die Heimat – mit „Auf gut Schwäbisch“ im Gepäck.

Inge Stoll, das muss man wissen, zählt zu den treuesten Mitwirkenden unserer Dialektserie. Sie hat hier bereits über die Narren in Oberndorf berichtet, über ihre schwäbelnde Tante Tilly in Amerika und über klemmende Eierlikör-Verschlüsse (worauf ihr der Geschäftsführer der Kellerei Alde Gott technische Besserung gelobte und sie zur Kellereibesichtigung einlud). Trotz eines schweren Leidens, von dem eine Gehbehinderung zurückgeblieben ist, strotzt Inge Stoll vor Lebenskraft und -freude. Davon möchte sie etwas weitergeben, getreu ihrem Motto: „Ich kann zwar nicht mehr auf den Mount Everest steigen, aber ich kann etwas Gutes tun.“ Beispielsweise alten Menschen vorlesen, und zwar in der Sprache, in der viele ihrer Lebenserinnerungen abgespeichert sind: in Schwäbisch.

Kurz entschlossen nahm sie Kontakt mit der Leiterin des Pflegeheims in Vöhringen auf, in dem ihr Onkel Arthur die letzten Monate seines über 90-jährigen Lebens verbrachte. Für die Bewohner organisierte sie einen Lese-Nachmittag mit Kaffee und Kuchen. Ihre Idee: Die älteren Menschen sollten zum Reden und Erzählen angeregt werden. Gezielt wollte sie damit auch Demenzkranke ansprechen Für sie eine Herzensangelegenheit.

Und so sitzen am Freitagnachmittag mehr als 30 ältere Damen und Herren im großen Saal des Seniorenheims und erleben die Lesepremiere der Inge Stoll. Sie lauschen und lachen. Eineinhalb Stunden lang liest das „Aistaiger Mädle“ aus den beiden „Auf gut Schwäbisch“-Büchern vor und gibt eigene Gedichte zum Besten, wie das über die Mäuse, die sich in ihrem Bauernhaus eingenistet haben (demnächst an dieser Stelle!).

Hintersinnig und liebevoll erzählt Inge Stoll von Thaddäus Troll, von Sebastian Blau und dem musischen Onkel Arthur, der während der Kriegsjahre statt mit dem Spaten, wie es vorgeschrieben war, mit seiner Geige zum Arbeitsdienst einrückte. Später in Gefangenschaft verfasste er Märsche auf Toilettenpapier.

Dann schlägt sie den Bogen zu ihrem Hochdeutsch sprechenden Enkel Finn. Der schenkte seinem Großvater zum Geburtstag einen schwäbischen Satz. Diesen hatte man ihm zuvor eingeflüstert: „Opa, du schwäbischer Bauraseckel. I gradulier’ dir au zu deim Geburtsdag!“ Der Opa lachte übrigens Tränen.

Inge Stoll schließt mit einem Gedicht von Gertrud Ellwanger, ihrer „Auf gut Schwäbisch“-Brieffreundin jenseits der 90: „Wenn de 80 bisch ond drüber“. Es endet mit den Worten: „Em Herza send mir ewig jong ond lached grad zum Bossa.“ Das trifft’s, was Inge Stoll ausdrücken will. „Einmalig!“, sagt eine Heimbewohnerin. Für Inge Stoll ein Ansporn weiterzumachen. Auch in anderen Altenheimen soll bald „Auf gut Schwäbisch“ erklingen. Der schwäbische Spruch des Tages kommt von Leser Martin Beck aus Stutensee. Er schreibt diesen Satz einem Böblinger zu, der nach einem mehrmonatigen Berlinaufenthalt sagte: „Ich habe mich an das Hochdeutsche so sehr gewöhnt, dass i’s gar nemme lau ka!“