Die beiden Reaktoren der Atomkraftanlage Fessenheim liegen an der deutsch-französischen Grenze, direkt am Rhein Foto: dpa

Von einem Störfall im Atommeiler Fessenheim im April 2014 kommen neue Details ans Licht. Landesumweltminister Franz Untersteller (Grüne) fordert Frankreich auf, endlich einen verbindlichen Termin für die Abschaltung zu nennen.

Fessenheim - Es ist alles wie immer, als am 9. April 2014 gegen 17 Uhr in einem der beiden Reaktoren des Atomkraftwerks (AKW) Fessenheim ein Behälter mit Kühlwasser befüllt wird. Auch dass ein bisschen Wasser überläuft, ist kein ungewöhnlicher Vorgang. Allerdings verstopfen Rost und Schmutz das Rohr, welches das überlaufende Wasser hätte ableiten sollen. Rund drei Kubikmeter Wasser bahnen sich einen anderen Weg. Über Lüftungskanäle und undichte Isolierungen verteilt es sich auch in darunter liegende Stockwerke – hinein in sicherheitsrelevante Schaltschränke, in denen auch die Elektronik für eine Notabschaltung sitzt. In der Leitwarte des Reaktors 1 löst der Wasserschaden mehrere Alarmsignale aus.

Der Versuch, den Reaktor ordnungsgemäß herunterzufahren, scheitert. Eines der beiden Sicherheitssysteme ist ausgefallen, offenbar lassen sich die Steuerstäbe nicht bewegen. Diese sind eigentlich dazu da, die Leistung zu regulieren. Je weiter man sie im Reaktorkern absenkt, desto langsamer läuft die Kernreaktion ab. Ein einberufener Krisenstab entscheidet sich, das chemische Element Bor ins Kühlwasser zu geben, um den Reaktor notfallmäßig herunterzufahren.

Sachverständiger Mertins spricht von einem „sehr ernsten Ereignis“

Berichten von „Süddeutscher Zeitung“ und WDR zufolge war die Temperatur im Reaktorkern vor der Notabschaltung für mehrere Minuten außer Kontrolle geraten. Der Rechercheverbund beruft sich dabei auf einen Brief, den die französische Atomaufsicht ASN wenige Tage nach den Vorkommnissen an den damaligen Chef des Kraftwerks schickte. Manfred Mertins interpretiert aus diesem Schreiben, dass die Mannschaft den Reaktor in diesem Zeitraum „quasi blind“ gefahren habe.

Mertins ist seit Jahrzehnten als Sachverständiger für Reaktorsicherheit tätig. Der Zwischenfall habe den Reaktorkern, „die Seele der Anlage“, betroffen, sagt Mertins. Insofern sei dies ein „sehr ernstes Ereignis“ gewesen. Dem Experten zufolge war es die erste Notborierung in Westeuropa.

ASN stufte das Ereignis in Stufe 1 von 7 auf der internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES) ein. Das Abfahren mittels Aufborierung habe den Betriebsvorschriften entsprochen, sagte ein Vertreter der ASN im September 2014 bei einer Sitzung der Deutsch-Französischen Kommission für Fragen der Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen (DFK). Dies geht aus einer Landtagsanfrage der Grünen hervor.

Problem der Anlage oder Problem der Anzeige?

Auch Reaktorsicherheitsexperten des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit schätzen den Unfall nach Informationen unserer Zeitung nicht als Problem der Anlage, sondern lediglich als Problem der Anzeige ein. Sie bestätigen aber, dass dadurch eine „stufenweise Nachjustierung der Stellung der Steuerstäbe“ nicht mehr möglich gewesen sei.

Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) sieht in den Medienberichten „keine aktuelle Neuigkeit“. An ihrer grundsätzlichen kritischen Haltung zum AKW Fessenheim ändere dies jedoch nichts, sagte ihr Sprecher. Mehrfach habe sie französische Regierungsvertreter in den vergangenen Jahren aufgefordert, den Atommeiler möglichst zeitnah vom Netz zu nehmen. Der Vorfall sei ein weiterer Beleg für das Risiko, das vom Betrieb dieses alten Kraftwerks ausgehe, sagt Hendricks.

AKW Fessenheim ist das älteste des Landes

Die zwei Reaktoren in Fessenheim, direkt an der Grenze zu Baden-Württemberg, sind die beiden ältesten in Frankreich. Mehrheitlicher Anteilseigner der Anlage ist der staatliche Energiekonzern EdF, der insgesamt 58 Kernkraftwerke betreibt, 155 000 Mitarbeiter beschäftigt und 73 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr macht. Im Wahlkampf versprach Präsident François Hollande einst, den Meiler bis 2016, spätestens aber bis zum Ende seiner Amtszeit 2017 abschalten zu wollen. Mittlerweile ist im Gespräch, dass Fessenheim erst vom Netz geht, wenn der neue Reaktor in Flamanville in der Normandie seinen Betrieb aufnimmt. Nach Lage der Dinge ist das erst Ende 2018. Der Ausgang dieses Zwists ist ungewiss.

Neues Energiewendegesetz in Frankreich

Für den baden-württembergischen Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) stellt der Weiterbetrieb des Kraftwerks in Fessenheim allerdings ein „unzumutbares nukleares Sicherheitsrisiko“ dar. Mit einem Schreiben hat er sich deshalb an die französische Umweltministerin Ségolène Royal gewandt und sie aufgefordert, die Stilllegung nicht nochmals zu verschieben. Er wolle Klarheit über den Zeitpunkt.

Unterstellers Bitte ist durchaus nachvollziehbar. Denn es scheint, als diktiere EdF-Chef Jean-Bernard Lévy nach wie vor den Zeitplan für die Energiewende in Frankreich. Zwar unterzeichnete die Nationalversammlung erst im Sommer des vergangenen Jahres ein neues Energiewendegesetz, in dem verankert ist, dass bis spätestens 2025 nur noch 50 statt der bisherigen 75 Prozent des Stroms in Frankreich durch Kernkraftwerke produziert werden sollen. Zuletzt forderte Lévy aber die Verlängerung der Lebensdauer von AKWs von 40 auf mindestens 50 Jahre.

Royal wie eine Marionette

Und in dieser Frage wirkt Frankreichs Umwelt- und Energieministerin Royal wie eine Marionette der einflussreichen Atom-Lobbyisten. Vor wenigen Tagen knickte sie ein und kündigte an, der Forderung zuzustimmen, sofern die Kraftwerke den nach der Katastrophe in Fukushima verschärften Sicherheitsnormen genügten und die Kontrollbehörde ASN die Entscheidung bestätige.

Zu den neuen Details von Fessenheim ließ ASN erklären, es gebe „keinen Grund zur Schließung“ der beiden Reaktoren. Und so bleibt das AKW Fessenheim wohl auch die nächsten Jahre ein Dauer-Sicherheitsrisiko am Oberrhein.