Ausstieg aus Nuklearenergie soll koordiniert werden - EU-Staaten sollen mitreden.

Seit Deutschland über Nacht aus der Atomkraft ausgestiegen ist, knarzt es in Europa. Denn die Auswirkungen der Entscheidung betreffen auch andere Länder. Jetzt will EU-Kommissar Oettinger die europäische Energiepolitik besser koordinieren und dafür zur Not auch die Souveränität der Staaten einschränken.

Wie aus einem internen Papier der Brüsseler Energiedirektion hervorgeht, erwägt EU-Energie-Kommissar Günther Oettinger staatliche Alleingänge in energiepolitischen Fragen deutlich zu erschweren.

Damit zielt Oettinger direkt auf den unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe von Fukushima in Deutschland beschlossenen Atomausstieg. Dieser schaffe in Teilen Europas eine völlig neue Situation. Nach der Abschaltung von zunächst acht Atommeilern stünden mehrere EU-Staaten vor völlig "neuen Herausforderungen", heißt es in dem nur für den internen Gebrauch vorgesehenen Schreiben, das als Grundlage für ein Treffen der EU-Energieminister am gestrigen Dienstag im polnischen Breslau dienen soll. Das Papier, das unserer Redaktion vorliegt, nennt explizit kurz- und mittelfristige Risiken bei der Energieversorgung und der Netzstabilität in Europa, die auf den deutschen Atomausstiegsbeschluss zurückzuführen seien.

Als Reaktion erwägt Brüssel nun offenbar, große energiepolitische Weichenstellungen - etwa den Ausstieg aus der Atomkraft - von der Zustimmung anderer EU-Staaten abhängig zu machen.

Auf jeden Fall muss es nach Ansicht Brüssels zu einer besseren Abstimmung der Staaten untereinander kommen. In einem zusammenhängenden Energiemarkt seien "alle Mitgliedstaaten von weitreichenden Entscheidungen im Energiesektor betroffen", heißt es in dem Papier. Sie verfügten daher über "legitimes Interesse", in diese Entscheidungen eingebunden zu werden.

Kritiker werfen Oettinger nun vor, durch seinen Vorstoß den Atomausstieg Deutschlands durch die Hintertür zu torpedieren. "Energiekommissar Oettinger will das Recht der Staaten beschneiden, über die Abschaltung von Atomkraftwerken im eigenen Land zu entscheiden", sagte die atompolitische Sprecherin der Bundes-Grünen, Sylvia Kotting-Uhl, in einer ersten Reaktion nach Bekanntwerden des Papiers. Oettinger mache sich zum "Handlanger der Atomlobby".

Die EU-Energiekommission weist diese Interpretation zurück. "Wir respektieren die Entscheidung Deutschlands zum Atomausstieg", sagte eine Sprecherin der Brüsseler Kommission unserer Zeitung. Jeder EU-Mitgliedstaat habe die Kompetenz, über seinen spezifischen Energiemix zu entscheiden. Daran werde nicht gerüttelt. Es sei Oettinger darum gegangen, den Umstieg auf eine andere Energieversorgung europaweit besser vorzubereiten. "Wenn große energiepolitische Entscheidungen anstehen, sollten sich die Staaten koordinieren und informieren", sagte die Sprecherin.

Der jetzige Oettinger-Vorstoß ist eine direkte Folge der Ernüchterung, die der deutsche Atomausstieg bei vielen deutschen Nachbarländern ausgelöst hat. Bisher ist nur das Nicht-EU-Mitglied Schweiz dem deutschen Vorbild gefolgt und will seine AKW bis 2034 vom Netz nehmen. Italien will dagegen zur Atomkraft zurückkehren. Frankreich setzt nach wie vor auf Nuklearenergie.

In mehreren deutschen Anrainerstaaten herrsche "grundsätzlicher Ärger" über den im Juni dieses Jahres quasi über Nacht beschlossenen Atomausstieg, sagte der Energieexperte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Severin Fischer, unserer Zeitung. Besonders östliche Nachbarländer wie Polen hätten in Folge des Ausstiegs in den vergangenen Monaten mit Problemen in ihren Stromnetzen zu kämpfen. Eine Tatsache, die auch Oettinger in seinem Papier erwähnt. Allgemein müsse man der Bundesregierung vorhalten, den Atomausstieg nicht ausreichend mit ihren Nachbarn koordiniert zu haben.

Oettinger hat in den vergangenen Monaten mehrfach auf die Gefahren eines übereilten Atomausstiegs in Deutschland hingewiesen. Unmittelbar nach der Fukushima-Katastrophe am 11.März dieses Jahres sagte er im Interview mit unserer Zeitung, er halte den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland für "technisch und wirtschaftlich nicht machbar". Immer wieder machte der Energiekommissar auf mögliche Strompreiserhöhungen und Probleme bei der Versorgungssicherheit aufmerksam, die besonders den Industriestandort Deutschland hart treffen könnten.

Aus dem baden-württembergischen Umweltministerium, der zuständigen Aufsichtsbehörde in Atomfragen, hieß es, die Versorgung der Bürger mit Energie sei nicht gefährdet. Das Thema habe "oberste Priorität". Die Atomkraftwerke im Land würden wie geplant vom Netz gehen. Eine rechtliche Grundlage für die EU, in dieser Frage mitzuentscheiden, sei nicht gegeben. Die Entscheidung über die Nutzung der Kernenergie, also etwa über den Bau von Kernkraftwerken und ihren wirtschaftlichen Betrieb sei eine rein nationale Angelegenheit.