Wolfgang Ischinger – hier in seinem Berliner Büro – leitet die Münchner Sicherheitskonferenz, die jährlich das weltweit wichtigste Expertentreffen zur Außen- und Sicherheitspolitik veranstaltet. Foto: Sven Darmer

Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, warnt vor einem neuen atomaren Rüstungswettlauf – der auch die Diskussion über Atomwaffen in Deutschland wieder entzünden könnte.

Berlin - Eine halbe Million Menschen demonstrierte 1983 in Bonn gegen die Stationierung neuer Atomraketen in Mitteleuropa – es war die größte Friedenskundgebung der deutschen Nachkriegszeit. Die Debatte über eine mögliche „Nachrüstung“ mit Mittelstreckenraketen hatte das Land tief gespalten. Was heute wie eine ferne geschichtliche Episode klingt, könnte nach Ansicht des ehemaligen Spitzendiplomaten Wolfgang Ischinger schon bald brisante Aktualität gewinnen.

Herr Ischinger, Atomwissenschaftler betreiben symbolisch die sogenannte „Doomsday Clock“. Diese Uhr soll anzeigen, wie groß die Gefahr eines Atomkriegs ist. Im Januar 2018 wurde sie auf zwei Minuten vor 12 vorgestellt. Steht die Welt tatsächlich kurz vor einer nuklearen Auseinandersetzung?

Wir sollten nicht in Panikmache verfallen, allerdings gibt es große Gefahren. Die liegen weniger in einer beabsichtigten atomaren Konfrontation als in einer unbeabsichtigten Eskalation. Wir beobachten einen dramatischen Vertrauensverlust zwischen Washington und Moskau, hier herrscht heute weniger Vertrauen als zu Zeiten des Kalten Krieges. Zudem gibt es Krisen wie in der Ukraine, in Libyen und Syrien, und die Konflikte mit Iran und Nordkorea, aus denen heraus sich eine Zuspitzung ergeben kann. In Europa hat sich der Eindruck festgesetzt, die atomaren Gefahren seien für uns mit dem Ende des Kalten Krieges verschwunden. Die nuklearen Waffen und Gefahren sind aber nicht weg. Wir müssen uns wieder damit beschäftigen.

Die alten Nuklearstaaten – insbesondere die USA und Russland – modernisieren gerade mit hohem Aufwand ihre Arsenale, allein die USA wollen dafür bis 2026 rund 400 Milliarden Dollar ausgeben. Sind wir bereits mitten in einem neuen Rüstungswettlauf?

Leider Ja. Es ist fast so, als würden sich die Zeiten wiederholen. In den 1980er Jahren wurde in Washington begonnen, die damalige Sowjetunion praktisch tot zu rüsten. Man hielt sich für ökonomisch so überlegen, dass man sicher war, einen Rüstungswettlauf gegen die Sowjets gewinnen zu können. Das hat ja auch funktioniert! In der Trump-Administration werden solche Überlegungen heute wieder angestellt.

1987 wurde mit dem INF-Vertrag erstmals eine ganze Waffenkategorie verboten – nämlich Mittelstreckenraketen, die in einem Kriegsfall insbesondere die Europäer getroffen hätten. Wie stabil sind solche Verträge noch?

Wie andere Rüstungskontrollverträge auch ist der INF- Vertrag schwer unter Beschuss. Beide Seiten werfen sich gegenseitig Verstöße vor. Ich will mir gar nicht ausmalen, was geschieht, wenn dieser Vertrag hinfällig würde und uns dann vielleicht eine neue Debatte über neue nukleare Mittelstreckensysteme in Europa bevorstehen könnte. Das hielten wir politisch nicht aus, fürchte ich.

Der letzte Rüstungskontrollvertrag zu Interkontinentalraketen, „New START“, läuft im Jahr 2021 aus. Werden ihn Amerikaner und Russen verlängern?

Seit Abschluss dieses Vertrages 2012 ist technisch viel passiert. Man wird diesen „New-START“-Vertrag also nicht einfach nur fortschreiben wollen. Man braucht Zeit für eine Überarbeitung, insbesondere zu Verifikationsfragen. Eigentlich müssten also schon jetzt Gespräche laufen, um die Frist bis 2021 zu erreichen.

Von solchen Verhandlungen ist aber noch nichts zu sehen…

Der russische Präsident Wladimir Putin soll Donald Trump bei ihrem Treffen im Juli vorgeschlagen haben, einen Verhandlungsprozess in Gang zu setzen. Es scheint aber nicht so, dass die USA schon eine belastbare Antwort gegeben hätten. Deshalb ist es dringend erforderlich, dass die Europäer in Washington geschlossen ihre Stimme erheben. Das wiederum ist nicht ganz einfach, weil einige unserer osteuropäischen Partner seit der Annexion der Krim und der russischen Rolle in der Ostukraine in Russland keinen vertrauenswürdigen Vertragspartner mehr sehen und keinen Sinn in Verhandlungen mit Moskau sehen. Es gibt also zur Zeit keine europäische Einheitsfront, um entschlossen Druck auf beide Seiten zu machen.

In Fachkreisen wird bereits diskutiert, ob sich auch Deutschland auf lange Sicht Atomwaffen zulegen sollte. Was halten Sie davon?

Absolut gar nichts. Das ist eine Geisterdebatte. Deutschland hat dauerhaft und völkerrechtlich verpflichtend auf nukleare Waffen verzichtet. Wir würden zum Totengräber des Nichtverbreitungsvertrags, wenn wir unsere Verpflichtungen infrage stellen würden, mit enormen negativen Folgen! Wir können uns deshalb auch nicht von Amerika abnabeln, wir brauchen die USA als NATO-Partner und als Sicherheitsgaranten.

US-Präsident Trump hat mehrfach die Beistandsgarantie der Nato in Frage gestellt. Wie stabil ist der atomare Schutzschirm der Allianz noch?

Wir müssen hier unterscheiden zwischen den Tweets und dem tatsächlichen Handeln der USA. Faktisch haben die USA in den letzten Monaten sehr viel zur Stärkung der Nato getan: es sind heute mehr Soldaten und Panzer aus den USA zur Rückversicherung in Europa stationiert als zu Zeiten Barack Obamas.

Das ändert doch nichts daran, dass Trump mit seinen Worten Unsicherheit schürt.

Das ist leider richtig, aber Verteidigungsminister Mattis ebenso wie Außenminister Pompeo tun viel, um vertrauensbildend zu wirken.

„Was die Bundesregierung tut, ist nicht genug“

Trump hat den US-Beistand davon abhängig gemacht, dass die Europäer und speziell die Deutschen weit mehr für ihre Verteidigung ausgeben als heute. Können Sie erkennen, dass die Bundesregierung genug tut, um die amerikanischen Wünsche zu erfüllen?

Die USA haben ja Recht mit dem Hinweis, dass die Lastenverteilung in der Nato nicht auf Dauer so aussehen kann, dass sie den Löwenanteil der Kosten tragen. Was die Bundesregierung bisher tut, ist nicht genug. Die Taktik des amerikanischen Präsidenten wirkt allerdings zum Teil kontraproduktiv, weil sie in Deutschland Gegenkräfte mobilisiert – beispielsweise in der SPD. Deshalb bin ich sehr dafür, die Debatte nicht unter dem Motto zu führen, ob wir Washington einen Gefallen tun sollten, sondern was wir für unsere eigenen Sicherheitsinteressen tun wollen bzw tun müssen. Es geht auch nicht einfach um mehr Geldausgeben und mehr Waffen…

Sondern?

Um mehr Effizienz. Warum zum Beispiel schaffen wir nicht noch viel mehr europäische Initiativen, in der Rüstungsindustrie wie bei den Strukturen der Streitkräfte. Ein Beispiel: eine europäische Ostseeflotte. Wir bauen gemeinsam die Schiffe, stellen gemeinsam die Soldaten und es gibt einen zwischen den Anrainern rotierenden kommandierenden Admiral. Wenn nicht mehr jedes EU-Land mit seiner eigenen kleinen Seestreitmacht herum schippert, könnten wir schlagkräftiger sein und gleichzeitig Geld sparen. Das ist ein Beispiel von vielen!

Sie treten seit längerem dafür ein, dass in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik das Mehrheitsprinzip gelten sollte. Glauben Sie wirklich, dass sich die Deutschen bei Fragen von Krieg und Frieden einem europäischen Votum unterwerfen werden?

Ja, das glaube ich schon. Die Sorge, dass wir dann überstimmt werden, ist sehr weit hergeholt. Und wenn schon? Wenn wir wollen, dass die EU unsere Interessen weltweit angemessen vertreten kann, gibt es keine Alternative zu Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik, wie wir sie ja zum Beispiel in der Handelspolitik längst haben. Ich fordere das schon seit längerem. Außenminister Maas hat sich wie sein Vorgänger Gabriel inzwischen klar für den Weg zu Mehrheitsentscheidungen ausgesprochen, auch die Bundeskanzlerin hat sich schon in diese Richtung geäußert. Da ist etwas in Bewegung gekommen. Mein Weihnachtswunsch wäre, dass Deutschland ganz offiziell die Initiative in dieser Sache ergreift.

Müsste dieser Vorstoß nicht eher von den kleineren EU-Staaten kommen als ausgerechnet von Deutschland?

Im Gegenteil. Deutschland hat sich in letzter Zeit nicht nur Freunde gemacht in der EU. Ich nenne nur die Stichworte Finanzkrise und Flüchtlinge. Manche in der EU fühlen sich von uns herumkommandiert. Da könnte es wie ein Befreiungsschlag wirken, wenn Berlin sagen würde: Wir sind für Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik. Und als ersten Schritt bieten wir an, dass Deutschland ab sofort auf sein Veto verzichtet – dass wir uns also nicht in den Weg stellen, wenn die anderen Länder eine gemeinsame Position entwickelt haben. Es wäre ein starkes Signal, dass Deutschland nicht einfach noch mehr Macht in Europa will, sondern bereit ist, seine Fähigkeiten für ein stärkeres, mächtigeres Europa einzusetzen, das international als Akteur respektiert wird, weil es mit einer Stimme spricht - für 500 Millionen Europäer!