Eine Luftabwehrrakete vom Typ „Patriot“ wird zu Testzwecken abgeschossen (Foto undatiert). Foto: US Department of Defense

Die USA drohen damit, den INF-Abrüstungsvertrag aufzukündigen. Der Kalte Krieg ist schon lange vorbei. Bei dem Vertrag gehe es daher um mehr, als eine nukleare Gefahr für Europa abzuwenden, meint Chefredakteur Christoph Reisinger.

Brüssel - „Amerika, Gott erhalt’s – Atomraketen in die Pfalz!“ Mit diesem Spruch ätzten um 1980 Friedensbewegte gegen die Stationierung von US-Atom-Mittelstreckenwaffen in Europa. Andere – nicht zuletzt Bundeskanzler Helmut Schmidt – betrachteten diese Stationierung hingegen als unvermeidliche Antwort auf die Ausrüstung der Roten Armee mit solchen Waffen. Übrigens gegen den ausdrücklichen Expertenrat der Nuklearen Planungsgruppe der NATO, worüber später der Mantel des Schweigens gebreitet wurde.

Wie hat das Hü und Hott um Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper damals die Gemüter erhitzt, gerade in Deutschland. Und wie weit weg schien das seit 1989, gerade in Deutschland. Damit unklugerweise auch das Schicksal der Rüstungskontrollverträge über Atomwaffen. Sie schienen aus der Zeit gefallen, manch einer hielt den ewigen Frieden für ausgebrochen, gerade in Deutschland.

USA schließen sich sogar mit der Nato zusammen

Jetzt ist das alles wieder da. Die USA – neuerdings nicht mehr im Trumpschen Alleingang sondern bemerkenswerterweise im Schulterschluss mit den 28 Nato-Partnern – drohen Russland nach 30 Jahren aus dem INF-Vertrag zur Begrenzung solcher Mittelstreckensysteme auszusteigen. Mit der Begründung, Russland verstoße massiv gegen dieses Abkommen. Zumindest offiziell gibt es dafür kaum mehr Beweise als für nachweislich falsche russische Gegenvorwürfe, die USA seien die Vertragsbrecher.

Um das richtig einzuordnen: Fällt der INF-Vertrag als eines der letzten intakten Rüstungskontrollabkommen, schwebt Deutschland nicht gleich wieder in Gefahr, zum nuklearen Schlachtfeld zu werden. Trotz aller Spannungen im Verhältnis zu Russland ist die Lage glücklicherweise mit dem Kalten Krieg nicht vergleichbar.

Der Punkt ist ein anderer. Ausgerechnet die stärksten Nuklearmächte, die ohnehin nie ihren Abrüstungsverpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag nachgekommen sind, geben ein schlechtes Beispiel. Den erschreckend vielen nuklearen Emporkömmlingen, die das Erpressungspotenzial dieser Massenvernichtungswaffen so sehr schätzen und die umso dringender in Kontrollsysteme eingebunden werden müssten.

Kündigung des INF-Vertrags wäre eine logische Antwort

Vom europäischen Idyll mit seinen mächtigen Stabilitätsgaranten Nato und EU, mit amerikanischen Beistandsversprechen und einem zwar rüde auftretenden, aber zugleich rationalen Erwägungen folgenden Russland ist Asien weit, weit weg. Europa aber nicht gar so weit von Atomwaffen oder möglicherweise nach Europa überbordenden Atomkonflikten auf diesem Kontinent. Dem praktisch jede Sicherheitsarchitektur fehlt und der seit Jahren eine hemmungslose Aufrüstung erlebt.

Mit anderen Worten: Wenn sich Russland tatsächlich nicht mehr um die vereinbarte Begrenzung von atomaren Mittelstreckenwaffen schert, mag die Kündigung des INF-Vertrags eine unausweichliche Antwort sein. Angemessen ist sie aber nur, wenn mit ihr keine Verletzung von Verträgen seitens der Nato verbunden wird – etwa durch die Stationierung von Nuklearwaffen in Nato-Staaten, die dem Bündnis nach Ende des Kalten Krieges beigetreten sind.

Zwingend zu verbinden wäre dieser Ausstieg mit dem Versuch, zu einer neuen, zeitgemäßen Vereinbarung mit Russland zu kommen, die idealerweise auch unbemannte Flugzeuge einschließt. Denn die Alternative ist angesichts der leider so unsteten sicherheitspolitischen Zeitläufte brandgefährlich: neue Atomraketen in der Pfalz, oder anders gesagt, die Rückkehr des atomaren Wettrüstwahns nach Europa.

christoph.reisinger@stuttgarter-nachrichten.de