Es muss nicht immer der Pinsel sein. Auch mit einer Zahnbürste lässt sich die Farbe gut auf die Leinwand bringen. Foto: Barnerßoi

Im offenen Atelier in Degerloch drücken Menschen mit und ohne Demenz ihre Gefühle künstlerisch aus.

Stuttgart-Degerloch - Verträumt blickt Gabi Müller auf die Collage vor ihr. Verschiedene Schnipsel, die das Meer zeigen, hat sie zusammengeklebt und zu einem neuen Bild arrangiert. Mit der Fingerspitze streicht sie minutenlang über die Sandkörner, die sie auch aufgeklebt hat. Lydia Horn stupst die 59-Jährige Riedenbergerin, die in Wirklichkeit anders heißt, an und drückt ihr eine gelbe Ölkreide in die Hand: „Malen Sie doch noch eine dicke, fette, strahlende Sonne.“ Gabi Müller greift zur Kreide, freut sich, möchte eine Sonne malen, setzt die Kreide auf der Collage an und – nichts. Sie hat vergessen, wie eine Sonne aussieht.

Gabi Müller hat Demenz. Lydia Horn betreut sie. An diesem Tag sind die beiden in die Atelierräume des Degerlocher Frauenkreises gekommen. Das „offene Atelier“ ist eine Veranstaltung im Rahmen der Demenzkampagne, die derzeit in Degerloch läuft. Fünf Stationen hat Anke Böhm aufgebaut, die Teilnehmer – Menschen mit und ohne Demenz – können sich entscheiden, ob sie basteln, mit Ton arbeiten oder sich mit Pinsel und Farbe austoben wollen.

Anke Böhm möchte Demenzpatienten mit der Kunst abholen

Anke Böhm ist Kunsthistorikerin und Kunstpädagogin. Und seit Kurzem auch Kunstgeragogin. „Das ist eine Wortkreation aus Gerontologie und Pädagogik“, erklärt sie. Es gehe darum, kunstpädagogische Angebote für ältere Menschen zu schaffen. „Für Kinder und Erwachsenen ist das schon lange normal“, sagt Böhm. Dabei seien das Altern und das Alter die längsten Lebensphasen – „und die Entwicklungsphasen und Krankheitsbilder, die auftreten können, müssten pädagogisch viel mehr begleitet werden“, sagt sie. Der Extremfall seien Demenzpatienten. Diese möchte Anke Böhm mit der Kunst abholen. Mit Farben und Formen können sie ihre Gefühle ausdrücken. Dabei ginge es nicht um das Ergebnis. „Es soll kein perfektes Bild entstehen. Die Menschen sollen die Kunst mit allen Sinnen genießen“.

Gabi Müller tut das. Die Sonne ist fertig. Lydia Horn hat geholfen. Gabi Müller lächelt und streicht über den Sand. Vermutlich ist sie in Gedanken längst am Meer.