Kanzlerin Merkel nach einer Krisensitzung im Reichstag: Sie bittet die CDU-Abgeordneten um Vertrauen – wenigstens für die nächsten zwei Wochen bis zum EU-Gipfel Foto: dpa

CDU und CSU beraten in getrennten Sitzungen über das weitere Vorgehen – am Ende sucht Merkels Partei den Kompromiss, und Seehofer Partei droht kaum verhohlen mit dem Bruch des Bündnisses.

Berlin - Der CSU-Mann Andreas Scheuer wollte als Verkehrsminister eigentlich eine Ladung Journalisten zum Fahrsicherheitstraining mitnehmen. Jetzt steht er vor seinem Ministerium und entschuldigt sich wortreich für die Absage, weil sein Parteichef per SMS spontan zur Krisensitzung gerufen hat. Der CDU-Politiker Peter Beyer, Koordinator für die transatlantischen Beziehungen im Auswärtigen Amt, hört aus dem Kanzleramt, dass sein Vormittagstermin mit Angela Merkel ausfällt, da sie eine kurzfristig anberaumte Telefonschaltung des CDU-Präsidiums leiten muss. Die beiden Unionsparteien befinden sich in einer schweren Krise.

Als die Abgeordneten aus dem Aufzug in die dritte Bundestagsetage mit den Fraktionssälen strömen, kann sich kaum einer daran erinnern, wann es so etwas schon einmal gegeben hat. Statt wie sonst gemeinsam Raum 3N001 aufzusuchen, gehen nur die CDU-Parlamentarier hinein, die CSU-Leute biegen in die andere Richtung ab. Getrennte Sitzungen sind an diesem Tag der sichtbarste Ausdruck dafür, dass der Streit über die richtige Asylpolitik hin zu einem in der Luft liegenden Koalitionsbruch eskaliert ist.

Reicht die Versöhnungsofferte der Kanzlerin?

Was genau passiert ist und wer welche Positionen vertritt, ist Gegenstand unzähliger Spekulationen, Gerüchte und Informationsfetzen. Nur eines ist klar: „Die Situation ist sehr ernst“, wie Merkel zu Beginn der Sitzung Teilnehmern zufolge eingeräumt hat. In der Nacht zuvor haben Merkel und Seehofer, assistiert von den wahlkämpfenden Ministerpräsidenten Volker Bouffier aus Hessen und Markus Söder aus Bayern, auch nach stundenlangen Gesprächen nicht zusammengefunden.

Die Bundeskanzlerin will beim EU-Gipfel Ende Juni eine Grundsatzeinigung über ein neues europäisches Asylsystem erreichen. Bundesinnenminister Seehofer (CSU) und seine Partei glauben dagegen nicht mehr an eine EU-weite Lösung und fordern einen nationalen Alleingang bei Zurückweisungen an der Grenze, die seit 2015 nicht mehr nach den eigentlich geltenden Dublin-Regeln funktionieren. Die Kanzlerin hat nun angeboten, am Rande des Brüsseler Treffens jene hauptbetroffenen Staaten zusammenzurufen, um mit ihnen innerhalb des europäischen Rechts bilaterale Zurückweisungsabkommen abzuschließen. Für sie, die gegenüber Alleingängern wie US-Präsident Donald Trump den Multilateralismus der gemeinsamen Abkommen hochzuhalten versucht, ist das schon ein Schritt.

Merkel will zwischenstaatliche Abkommen über eine geregelte Rücknahme

Ob das reicht? Der CSU offensichtlich nicht, aber auch Merkels eigene CDU hatte sich ja noch am Dienstag widerborstig gezeigt. Es geht also um Vertrauen, als sich die Abgeordneten nun außerplanmäßig wieder versammeln. Merkel bittet ausdrücklich darum – wenigstens für zwei Wochen. Bis dahin will die Kanzlerin Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um mit Ländern wie Italien und Griechenland, die am stärksten von den Seehofer’schen Abweisungsplänen betroffen wären, zwischenstaatliche Abkommen über eine geregelte Rücknahme abzuschließen. Oder wenigstens Vorarbeiten dazu leisten. Und auf dem EU-Gipfel soll auch über eine gesamteuropäische Lösung geredet werden.

Zwei Wochen. Hat Merkel noch so viel Kredit? In der Aussprache ergreift Wolfgang Schäuble als Erster das Wort. Dass er sich dazu genötigt sieht, zeigt den ganzen Ernst der Lage. Schäubles Appell: Er sieht eine, so berichten es Teilnehmer, „große Gefahr für CDU/CSU, das Land und Europa“, wenn der Asylstreit nicht beigelegt werde. Den Bayern gehe es nicht um Sach-, sondern um Machtfragen, legt der Bundestagspräsident nahe. Worauf er hinaus will, ist glasklar: Das ist ein Machtkampf, und die CDU soll sich um ihre Kanzlerin scharen.

Auch Seehofer wirkt wie ein Getriebener

Die Stimmung hat sich im Vergleich zur Fraktionssitzung am Dienstag gedreht. Dort konnte man das Gefühl haben, Merkel stehe isoliert da. Am Donnerstag ist das nicht der Fall. „Die zwei Wochen bekommen Sie natürlich“, ruft der Lörracher Armin Schuster Merkel zu. Sogar Jens Spahn, der am Morgen im Präsidium die Zustimmung zum Merkel-Kurs demonstrativ verweigert hat, will sich da nicht mehr querstellen. Die CDU-Abgeordneten sind hochverärgert, dass sie Seehofers umstrittenen Masterplan Migration bisher gar nicht zu Gesicht bekamen. „Den ominösen 63. Punkt und auch die anderen 62 hätte ich gerne einmal gelesen“, schimpft die Stuttgarterin Karin Maag. Unionsfraktionschef Volker Kauder räumt ein, dass er sich um das Papier bemüht habe, die Kanzlerin aber der dringlichen Bitte Seehofers folgend den Text nicht weitergab.

Es ist ein doppelter Machtkampf: Nicht nur Merkel kämpft ums politische Überleben, auch Seehofer wirkt wie ein Getriebener. Es wird kolportiert, er wäre bereit, Merkel die zwei Wochen einzuräumen, falls sie sich auf einen „Automatismus“ einlässt: Wenn es in Brüssel nicht vorangehe, sollten danach sofort Zurückweisungen an der Grenze im nationalen Alleingang erfolgen. Wer jedoch die Einlassungen von Bayerns Ministerpräsident Söder und Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hört, muss den Eindruck haben, dass der Parteichef nicht mehr unbedingt den Kurs der Partei bestimmt.

„Was für ein Spiel wird hier gespielt?“

Dobrindt erklärt nämlich das CDU-Kompromissangebot kurzerhand für „nicht ausreichend“. Europäische Lösungen seien fern, wenn sie überhaupt kämen. Statt auf die CDU-Offerte einzugehen, verkündet die CSU, ihr Parteivorstand werde Seehofer am Montag per Beschluss auffordern, „seine Ressortzuständigkeit wahrzunehmen“. Etwa indem er die Zurückweisungen an der Grenze per Ministererlass verfügt. Ein Bundesminister, der gegen die Linie der Kanzlerin agiert? Sie müsste ihn wohl entlassen.

Die Nachricht platzt in die CDU-Sitzung. Von „Erpressung“ ist die Rede, „irre“ sei das Vorgehen der Christsozialen. „Was für ein Spiel wird hier gespielt?“, soll der Mecklenburger Eckhardt Rehberg gefragt haben. Immer mehr CDU-Abgeordnete sehen eine „hidden agenda“ am Werk, die die vierte Regierung Merkel zu Fall bringen soll. „Die Hütte brennt“, sagt ein Parlamentarier aus dem Südwesten: „Wenn das so weiter eskaliert, sehe ich schwarz.“ Ein anderer verzweifelt: „Wir würden uns gerne einigen, wissen aber nicht mehr, wie.“ Sie wollen es trotzdem versuchen. Noch am Abend oder am Freitagmorgen soll es eine gemeinsame Fraktionssitzung geben.