Von der Normalität ist Afghanistan noch weit entfernt. Foto: Getty

Nachdem sie von einer Gruppe Islamisten vergewaltigt wurde, drohte einer jungen Afghanin die Todesstrafe durch Steinigung. Das EU-Recht lässt sie nun das Schlimmste fürchten: Die Asylbewerberin könnte von Stuttgart aus abgeschoben werden.

Stuttgart/Kabul - Rechtsanwalt Roland Kugler beschreibt seine Mandantin nicht so, wie man sich eine typische Afghanin vorstellt: „Sie trägt kein Kopftuch, ist der englischen Sprache mächtig, unverheiratet und hat in einem Beautysalon gearbeitet.“ Genau das wurde der 25-Jährigen zum Verhängnis, wenn man ihren Schilderungen Glauben schenken will: Nach einer Gruppenvergewaltigung durch bewaffnete Islamisten am Arbeitsplatz wurde sie von einem Dorfgericht wegen außerehelichem Sex zum Tod durch Steinigung verurteilt. Die Täter kamen indes straflos davon, weil das Opfer nach traditionellem islamischem Recht – nicht zu verwechseln mit der staatlichen Rechtsprechung in Afghanistan – durch die Benennung zweier männlicher Zeugen nachweisen müssen hätte, dass der Geschlechtsverkehr mit den Peinigern nicht einvernehmlich erfolgte. Doch auch die Gesetzgebung in der zivilisierten Europäischen Union hat ihre Tücken, wie das europäische Asylrecht zeigt: Der jungen Afghanin droht von Stuttgart aus die Ausweisung nach Holland – und danach die Abschiebung in ihr ungeliebtes Heimatland.

Es ist ein Präzedenzfall. Und unter anderen Umständen würde ein EU-Land wie Holland einem politisch verfolgtem Flüchtling auch nicht die Einreise verwehren. Aber als das Opfer mithilfe eines Schleusers zusammen mit ihrer zehn Jahre jüngeren Schwester von Kabul aus auf dem Flughafen in Schiphol in den Niederlanden landete, scheiterte der Asylantrag an der Kommunikation mit der Justiz. Das liegt an der angeblichen Scham der Afghanin, insbesondere mit Männern über ihre Vergewaltigung zu sprechen. Was dazu führte, dass man ihr dort Anfang 2012 kein Asyl gewährte – und sie nach Deutschland weiter flüchtete.

Hier erging es ihr nicht besser. Nachdem die Afghanin den Asylantrag eingereicht hatte, berief sich das Verwaltungsgericht Stuttgart trotz Kenntnis ihrer Leidensgeschichte auf das Asylrecht in Europa. Das Dublin-III-Abkommen besagt, dass ein Asylantrag nur in dem Land gestellt werden kann, in dem ein Flüchtling europäischen Boden betreten hat – was in diesem Fall die Niederlande sind. Diese Nachricht führte dazu, dass die Afghanin Anfang März einen Selbstmordversuch mit Tabletten unternahm, woraufhin sie in der geschlossen Psychiatrie in Bad Cannstatt ans Bett gefesselt wurde. Die kleine Schwester ist in einem Stuttgarter Jugendheim untergebracht.

„Man kann es sich als Flüchtling nicht aussuchen, ob man lieber Asyl in Italien beziehen würde, wenn man in Kroatien ankommt“, erklärt Kugler, gegen den jetzt die Zeit spielt. „Sobald meine Mandantin aus der Psychiatrie entlassen wird, ist das Urteil, dass sie ausgewiesen wird, wirksam.“ Darum hat er beim Verwaltungsgericht Stuttgart einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt, das auf dem Schreibtisch desselben Richters gelandet ist, der den Asylantrag abgelehnt hat. Über die Wiederaufnahme wird voraussichtlich noch in dieser Woche entschieden.

Beim ersten Antrag auf Asyl reagierte der Richter so: Angesichts des Gesundheitszustands der Frau sei ihr zwar keine Reise nach Afghanistan zuzumuten, sehr wohl aber in die Niederlande, gab er im Gerichtssaal zu Protokoll. Dass in Holland die Abschiebung der Frau nach Afghanistan bereits beschlossen war, sah er nicht als relevant an. Auch dass sie während der Verhandlung so mitgenommen war, dass die Anhörung nach ihrer Schilderung der „islamistischen Teufel“ für 20 Minuten unterbrochen werden musste, hat am Urteil Ende Oktober 2013 nichts ändern können. Also suchte der Anwalt nach einer anderen Lösung: Von hier aus einen neuen Antrag in den Niederlanden stellen, bevor der Flieger nach Afghanistan geht?

„Das habe ich natürlich versucht“, sagt Kugler. Aber einen Antrag auf Asyl kann nur der Asylbewerber persönlich stellen. Und der liegt eben schwer suizidgefährdet, wie die Ärzte des Klinikums Stuttgart und eine behandelnde Psychologin des Flüchtlingshilfswerks Refugio der Patientin attestieren, in der Klinik. Aber selbst wenn sie den Antrag selbst stellen könnte, wäre ihr Schicksal ungewiss. „In Niederlande gibt es den Status der Duldung nicht“, sagt Norbert Trosien, Mitarbeiter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), dem UN-Zentralorgan für Flüchtlingsfragen. Vermutlich würde sie dort erstmal inhaftiert werden. „Und Abschiebungen werden in den Niederlanden recht schnell durchgeführt“, erklärt Trosien weiter. Es mache zwar Hoffnung, dass auch dort zur Abschiebung vorgesehene Asylbewerber auf ihren Gesundheitszustand geprüft werden und die Stelle des UNHCR in Kabul auch Flüchtlingsbetreuung leistet. Doch eine Garantie, dass die Flüchtlingsfrau eine Aufenthaltsgenehmigung in den Niederlanden bekommt, gibt es nicht.

Die Rechtslage ist also verzwickt. Selbst wenn es Kuglers Mandantin möglich wäre, nach der Ausweisung in die Niederlande dort erneut einen Antrag auf Asyl zu stellen, besteht ärztlich testiert immer noch die Gefahr, dass die Frau sich vorher das Leben nimmt. „Allein wenn man das Wort Niederlande erwähnt, blockt sie ab und reagiert panisch“, erzählt Kugler von einem Treffen mit seiner Mandantin.

Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg e.V. weiß von einem ähnlichen Fall in Aalen zu berichten. Einer Frau aus Tschetschenien und ihren drei Kindern drohte die Ausweisung nach Polen, was eine Abschiebung nach Tschetschenien bedeutet hätte, wo sie verfolgt wurde. Der Anwältin, Vera Kohlmeyer-Kaiser, gelang es durch eine Gesetzeslücke, ihrer Mandantin zu Asyl in Deutschland zu verhelfen, da es eine Überstellfrist von einem halben Jahr gibt. Wenn die überschritten ist, kann Deutschland den Asylantrag übernehmen. „Das Problem sind die Arbeitsweisen der zuständigen Kammern“, sagt Kohlmeyer-Kaiser, die zu „völlig unterschiedlicher Rechtsprechung kommen“. In ihren Augen ist der juristische Umgang mit Flüchtlingen in Europa ein völliges Chaos.

Darum möchte sich Kugler ungern auf Fallbeispiele verlassen. „Das Dublin-III-Abkommen ist erst seit Ende 2013 in Kraft getreten.“ Das heißt, viel Praxiserfahrung mit Gerichtsurteilen gibt es noch nicht.

Auch Andreas Linder, vom Flüchtlingsrats, hält das Dublin-III-Abkommen für ungerecht: „Die äußeren und Mittelmeerländer in Europa müssen unverhältnismäßig mehr Flüchtlinge aufnehmen.“ Chancen für Kuglers Mandantin sieht er nur geringe: „Wir können Briefe an die Behörden schreiben, Unterschriften sammeln oder Demos veranstalten.“

Auf die Rechtsprechung in ihrer Heimat braucht die afghanische Flüchtlingsfrau wohl nicht zu hoffen. Dass sie plötzlich Vertrauen in die Behörden der Niederlande setzt, ist abwegig. Bleibt wohl nur der Ausweg, dass die deutsche Justiz eine Möglichkeit findet, das Dublin-III-Abkommen in diesem speziellen Fall zu umgehen.