Nach seiner Kriegserfahrung leidet Haseb S. unter einer Psychose Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Haseb S. müsste Stuttgart rein rechtlich verlassen, er hat inzwischen den zweiten Abschiebungsbescheid erhalten. Doch Ärzte haben ihm eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.

Stuttgart - In einem Dokument werden die Einweisungsumstände genannt: „Anruf vom Leiter des Asylbewerberheims Kirchheimer Straße, Herr S., der Ehemann einer Patientin von P3, habe sich geäußert, er brauche Hilfe, er könne nicht mehr.“ So steht es im Arztbrief eines Psychiaters der Klinik in der Furtbachstraße. Das Papier ist auch so etwas wie eine inoffizielle Bleibeberechtigung. Denn offiziell müssten die Behörden Haseb S. aus Bosnien-Herzegowina abschieben. Er hat bereits den zweiten Abschiebungsbescheid von der Ausländerbehörde bekommen.

An einem Nachmittag sitzt der Bosnier in seinem Zimmer im Flüchtlingsheim in Heumaden. Die Ärzte diagnostizierten bei dem 40 Jahre alten Bosnier eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Diese gilt als Abschiebehindernis, das S. und seine Familie davor bewahrt, in die Heimat zurück zu müssen. Die Erkrankung gehe zurück auf Erlebnisse, die S. im Krieg gehabt habe.

„Krieg“, das ist auch das Wort, das im Gespräch mit Haseb S. immer wieder fällt. Er sei schwer verwundet worden, als er 1995 auf bosnischer Seite gegen die Serben kämpfte. Um das zu bezeugen, zieht er das linke Hosenbein hoch und zeigt auf eine große Narbe, die sich den Unterschenkel hochzieht. Die Zehen sind amputiert. „Ein gegnerischer Schuss“, sagt der Bosnier. Er erinnert sich genau an das Datum: Es war der 21. Juni 1995.

S. lebt seit anderthalb Jahren in dem Heim, gemeinsam mit seiner Ehefrau und den Töchtern. „Weil wir Roma sind, konnten wir in Bosnien nicht arbeiten“, sagt er. Die Familie habe zehn Jahre lang gebettelt. „Ich habe immer meinen verwundeten Fuß gezeigt, weil ich nur so Geld bekommen habe“, sagt der Bosnier. „Wir wurden von den Nachbarn angefeindet. Hier können unsere Kinder nun zur Schule gehen, hier gibt es eine Zukunft. In Bosnien nicht.“

Ohne das ärztliche Attest wären der 40-Jährige und seine Familie dennoch längst zurück in der Heimatstadt, Bosanska Krupa. Denn eine Gesetzesänderung auf Bundesebene, die erst mit Unterstützung der grün-roten Landesregierung zustande kam, sollte die Abschiebeverfahren für drei Balkanländer beschleunigen. Seit November 2014 gelten Bosnien-Herzegowina und die Balkanländer Mazedonien und Serbien als sogenannte „sichere Herkunftsländer“.

Und tatsächlich hat sich die Zahl der Abschiebungen in diese Länder seit November 2014 mehr als verdreifacht: Hatten die Behörden in Baden-Württemberg im vergangenen November 19 Menschen aus diesen Herkunftsländern abgeschoben, waren es im Dezember 34 und im Januar dieses Jahres 61. „Die Verfahren werden in kurzer Zeit abgeschlossen. Personen, deren Anträge abgelehnt wurden, können innerhalb von vier Wochen ab der Antragstellung in ihre Herkunftsländer rückgeführt werden“, sagt ein Sprecher des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. In fast allen Fällen wird der Asylantrag der Roma aus den drei Balkanländern abgelehnt. Die Zugezogenen bekommen aber eine Duldung, laut Gesetz ist das eine „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“. Allein in Stuttgart schob das Innenministerium im vergangenen Jahr fünf Bosnier, sechs Mazedonier und 20 Serben ab. Experten nehmen an, dass diese Zahl in den nächsten Monaten stark steigen wird. In Regierungskreisen in Stuttgart heißt es, wie unsere Zeitung vergangenen Samstag schon berichtete, dass die Neuregelung unterlaufen werde. Immer mehr Roma-Flüchtlinge aus Serbien reisten ohne Pass ein und gäben an, sie kämen aus dem Kosovo.

Uemit Kepenek von der Arbeitsgemeinschaft Dritte Welt (AGDW) vermittelt die Bewohner des Heims in Heumaden an Kliniken und Krankenhäuser, wenn sie psychische Probleme haben. „Wir haben in der Unterkunft in Heumaden, in der 170 Menschen leben, jedoch zurzeit nur eine Person in psychologischer Behandlung“, sagt der Sozialarbeiter der Flüchtlingshilfe. In anderen Heimen kommen solche Fälle häufiger vor. „Eine Belastungsstörung ist aber nicht immer ein Abschiebehindernis, das kommt immer auf den Schweregrad der Erkrankung an“, sagt Kepenek.

Bei der Anlaufstelle für traumatisierte Flüchtlinge in Stuttgart, dem gemeinnützigen Verein Refugio, machen die Mitarbeiter eine andere Beobachtung. „Dass Menschen aus den Balkanländern mit einer Traumatisierung zu uns kommen, ist keine Seltenheit“, sagt eine Ärztin. Die Zahl der Roma, die aus Bosnien-Herzegowina nach Baden-Württemberg und nach Stuttgart zogen, war in der zweiten Jahreshälfte 2014 indes leicht rückläufig. So zog es bis August mehr als 400 Roma in den Südwesten, bis Jahresende folgten 200 weitere. Im Jahr 2014 schob das Innenministerium landesweit insgesamt 50 Menschen aus Bosnien-Herzegowina ab.

Haseb S. befindet sich seit diesem Montag wieder in Behandlung in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in der Furtbachstraße. Er hatte bereits zwei zweiwöchige stationäre Aufenthalte in dem Krankenhaus, die Ärzte wollen ihn nun erneut behandeln. „Ich bringe mich lieber um, als wieder zurückzukehren“, sagt Haseb. Er will zumindest, sagt er, dass seine Kinder in Stuttgart eine Zukunft haben.

Hintergrund

Beschleunigte Abschiebung

Sichere Herkunftsländer: Seit November vergangenen Jahres gelten die Balkanländer Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien als sogenannte sichere Herkunftsländer. Menschen aus diesen Ländern werden schneller abgeschoben.

Zuzüge aus den Westbalkanstaaten: Aus diesen Ländern sind im vergangenen Jahr 5701 Flüchtlinge nach Baden-Württemberg gekommen – ein Anteil von mehr als einem Fünftel (22 Prozent).

Beschleunigte Verfahren: Während die Bearbeitungszeit laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei den im Juli 2014 entschiedenen Anträgen durchschnittlich 7,7 Monate betrug, waren es im Dezember 5,7 Monate.

Mehr Bearbeiter: Die Beschleunigung der Verfahren ist laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zum einen auf die 2014 zusätzlich eingestellten 300 Mitarbeiter zurückzuführen. Mit der Besetzung weiterer 350 neuer Stellen sei bereits begonnen worden. Ein weiterer Grund sei, dass viele Asylbewerber entweder aus den als sichere Herkunftsländer eingestuften Westbalkan-staaten oder aus Syrien und dem Nordirak stammten.

Abschiebungen Die Zahl der Abschiebungen hat sich seit dem Jahr 2012 deutlich erhöht. Wurden damals noch insgesamt 80 Menschen aus den drei Balkanländern abgeschoben, waren es im vergangenen Jahr insgesamt 385. Aus Serbien stammten davon 225, 110 kamen aus Mazedonien und 50 aus Bosnien-Herzegowina.