Nicole Noller hat mit einer Freundin „Faces of Moms“ gegründet – eine Plattform auf der sich Mütter über die Herausforderungen austauschen. Was treibt Mütter besonders um? Ein Gespräch über den Druck, alles richtig zu machen.
Nicole Noller ist wütend. Es ist 2020, der erste Corona-Lockdown bringt das gesellschaftliche Leben zum Stillstand und zwingt die Menschen, zuhause zu bleiben. Kindergarten dicht. Büro dicht. „Die Pandemie hat mühsam errichtete Kartenhäuser zum Einstürzen gebracht“, sagt Noller. Sie als Mutter zweier Kinder habe sich allein gelassen gefühlt. Mit ihrer Freundin Natalie Stanczak fängt die Aspergerin an, Strukturen anzuzweifeln, Fragen zu stellen.
Warum wird immer noch das Alleinverdiener-Modell gefördert? Warum bringen Frauen 44 Prozent mehr Zeit auf für unbezahlte Sorgearbeit als Männer? Was muss sich ändern, damit erwerbstätige Mütter nicht mehr diskriminiert werden? „Corona hat wie in einem Brennglas sichtbar gemacht, in welcher Schieflage wir uns befinden“, sagt Noller.
Rabenmutter oder Super-Mum
Es ist die Wut, die mobilisiert und die zwei Frauen letztlich zu einem Entschluss treibt: Es braucht eine Plattform für Mütter jeglichen Lebens- und Erziehungsmodells, jeder Religion und Hautfarbe. Es braucht einen Platz, um über die täglichen Herausforderungen zu sprechen. Also stellen Nicole Noller und Natalie Stanczak, die Gründerinnen von „Faces of Moms“, anderen Müttern Fragen: Was ist deine größte Herausforderung? Was ist dein größter Abfuck und was würde dir helfen? „Wir wollten mit dem Wort Abfuck provozieren, weil es eben in dieses harmonische, sanfte Bild von Mutterschaft nicht reinpasst. Damit soll man auch mal sagen können, dass etwas zum Kotzen ist“, sagt Noller.
Auf Instagram teilen die Gründerinnen die Interviews. Dabei entsteht ein buntes Bild aus Wünschen, Sorgen und Herausforderungen, mit denen sich Mütter täglich konfrontiert fühlen. „Ich wünsche mir, dass wir ungeschönt über Herausforderungen der Mutter- und Elternschaft sprechen“, sagt zum Beispiel eine Mutter und ist damit unter den Befragten nicht allein. Viele suchen den ehrlichen Austausch, den urteilsfreien Raum, in dem sie auch mal zugeben dürfen, überfordert zu sein, ohne sich permanent einen Mütterwettstreit zu liefern. Rabenmutter oder glückliche Supermutter – dazwischen gebe es in der Gesellschaft nichts, sagt eine Frau über die Anforderungen. Auch Nicole Noller findet: Man kann es als Mutter nicht richtig machen. Tiefkühl-Benjamin-Blümchen-Torte statt selbst gebackener Kuchen, gekaufte Schultüte statt selbst gebastelte? „Ist doch völlig in Ordnung.“
Viele Frauen berichten aber nicht nur vom Druck der Gesellschaft, in allen Lebensbereichen abzuliefern und den Alltag dennoch mühelos erscheinen zu lassen. Sie erzählen auch von finanziellem Druck und mentaler Belastung. Dabei wäre es gemäß dem Spruch „es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind aufzuziehen“ schon deutlich leichter, wenn gesellschaftliche Strukturen so aufgebaut wären, dass mehr gegenseitige Unterstützung und Solidarität möglich wäre, sagt die Projektmanagerin Nicole Noller. „Sei es die Nachbarin, die den Müll mit runter nimmt oder die Person in der Bahn, die einem einen aufmunternden Blick zuwirft, wenn das Kind gerade brüllt.“
Ein Drittel kann nicht Vollzeit arbeiten aufgrund der Betreuung
Eines der ursprünglichen Ziele von Nicole Noller und Natalie Stanczak war es, auf die Herausforderungen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie aufmerksam zu machen. „Die Entscheidung zwischen Kind und Karriere sollte keiner mehr fällen müssen. Auch in Teilzeit kann man erfolgreich arbeiten“, sagt eine befragte Mutter.
Tatsächlich gibt laut der Bertelsmann Stiftung rund ein Drittel der weiblichen Beschäftigten an, aufgrund von Betreuungsverpflichtungen oder sonstigen familiären Gründen keiner Vollzeitbeschäftigung nachkommen zu können. Für 8,1 Prozent der Kinder in Baden-Württemberg gibt es keinen Kita-Platz. Ein weiterer Grund, warum viele Frauen in Teilzeit arbeiten, sind traditionelle Rollenbilder. „Bei Paaren wird die Frage nach der Arbeitsteilung von kulturellen Wertvorstellungen beeinflusst – oft zum Nachteil der Frau“, schreibt die Bertelsmann Stiftung.
Die zwei Gründerinnen haben in den letzten vier Jahren mit Müttern unterschiedlichster Lebensmodelle gesprochen. Beispielsweise Patchwork-Familien, Adoptiveltern, Alleinerziehende oder gleichgeschlechtliche Paare. Nicole Noller wünscht sich, dass auch in der Politik ein Umdenken zu vielfältigeren Familienkonstruktionen stattfindet. „Gibt es nicht eine Möglichkeit, das Elterngeld als gemeinsames Familieneinkommen zu besteuern? Oder Eltern generell eine Steuererleichterung zu bieten – vor allem auch für alleinerziehende oder alternative Familienmodelle?“, schlägt sie vor. Ob es seit der Gründung von Faces of Moms eine Verbesserung gegeben habe? Kaum, sagt Nicole Noller. Klar, gehen mehr Väter in Elternzeit, Lehrer achten bei Textaufgaben darauf, dass nicht nur Mama kocht und Papa von der Arbeit kommt – trotzdem dauert es nach dem Global Gender Gap Report noch 134 Jahre, bis alle gleichberechtigt leben können.
„Ich habe gelernt, wie privilegiert ich bin“
Nicole Noller hat in den letzten Jahren unterschiedliche Lebensrealitäten mitbekommen. Wie es ist, wenn der Partner kein Verständnis von gerechter Arbeitsaufteilung hat und nicht bereit ist für Verhandlungen. „Ich habe durch diese Kampagne gelernt, wie unterschiedlich strukturelle Ungleichheit auf Menschen wirkt und welche Privilegien und Position ich in der Gesellschaft dabei einnehme“, sagt sie. Ihr Ziel sei es deshalb, Platz zu schaffen, für diejenigen, die sich nicht öffentlich äußern können.
Faces of Moms
Buch
Die Gründerinnen haben 17 Interviews von Müttern in ihrem Buch „Bis eine* weint“ veröffentlicht.
Ausstellung
Vom 10. Oktober bis 20. November stellen sie Fotos und Interviews im Gemeindepsychiatrisches Zentrum Stuttgart-Freiberg im Treffpunkt Wallerie aus.