Ein seltenes Bild: Der Juchtenkäfer ist scheu und posiert ungern Foto: dpa

Diskutieren Sie mit! - Erst war es der Juchtenkäfer. Nun ist die Zauneidechse der tierische Aufreger. Weil sie in Hofen herumkraucht, lässt sich das Flüchtlingsheim dort nicht so erweitern, wie es Politiker und Anwohner gerne hätten. Es ist dies der neueste Konflikt in Stuttgart zwischen Mensch und Tier.

Stuttgart - Auf solche Zahlen wäre sogar Erich Honecker stolz. 96 Prozent aller Deutschen bekundeten bei einer Umfrage, der Naturschutz und der Erhalt von Flora und Fauna sei ihnen wichtig. Die Tierliebe stößt aber hin und wieder an ihre Grenzen. Wie derzeit in Hofen zu besichtigen, wo man sich fragt, ob die Belange der Menschen nicht wichtiger seien als jene der Eidechsen. Oder wie es SPD-Stadtrat Hans H. Pfeifer formuliert, die EU könne ihre Außengrenzen nicht schützen, dafür funktioniere der Schutz der Eidechse bestens. Platz ist rar und teuer in Stuttgart, demgemäß umkämpft. Der Druck auf den Artenschutz nimmt zu.

Die Konflikte

Wer kennt ihn nicht in dieser Stadt? Kaum einer hat ihn gesehen, aber er ist in aller Munde: der Juchtenkäfer. Er siedelt in alten Bäumen, gerne im Schlossgarten und im Rosensteinpark. Die Bahn hat ihn gut kennen gelernt, er hat sie beim Bau von Stuttgart 21 viel Zeit und Geld gekostet. Die Zauneidechse ist auch so ein streng geschütztes Tier. Auch sie wohnt dort, wo die Bahn baut, gut 6000 Zaun- und Mauereidechsen brauchen eine neue Heimat. Auf dem Güterbahnhof in Bad Cannstatt vergrämten die Eidechsen die Künstler von Contain’t. In Hofen will die Stadt ein Flüchtlingsheim erweitern. Dort wünschen die Anwohner, dass die zwei neuen Bauten nicht direkt an der Wagrainstraße, sondern in zweiter Reihe gebaut werden. So könne man Kleingärten erhalten und habe nicht fünf Systembauten nebeneinander, direkt neben einem Wohngebiet. Doch da sind die Eidechsen vor. Auch beim Sanieren von Gebäuden gibt es Konflikte: Beim Abriss achtet man nicht auf brütende Vögel und beim Abdichten von Fassaden vernichtet man Nistplätze.

Die Methoden

Die Eidechsen vergrämt man. Es meint, man sorgt durch heiße Folien dafür, dass die Eidechsen umziehen auf ein benachbartes Gelände. Die widerspenstigen fängt man mit Schlingen. So macht man es derzeit auf dem Güterbahnhofsgelände. In mehreren Etappen vertreibt man die Tiere so an ihre endgültige Heimat am Bahndamm. Wenn sie 2019 dann ihre bisherige Heimat verlassen haben, kann man dort Wohnungen bauen. Das Umsiedeln der Echsen kostet 4,2 Millionen Euro. Ob es ihnen besser ergeht als ihren Artgenossen?

Wegen Stuttgart 21 waren 106 Zauneidechsen von Feuerbach nach Steinheim an der Murr gebracht worden. Zwei Jahre später fanden Naturschützer nur noch zwei Echsen. Die Bahn geht davon aus, dass noch 50 Tiere leben. Für den Juchtenkäfer musste die Bahn mehrere Bäume im Schlossgarten und im Rosensteinpark stehen lassen. Ein Paar Turmfalken stoppte den Abriss der Alten Bahndirektion, erst nach der Brutzeit konnten die Bagger weiterwerkeln. Und die Bahn musste Hunderte Nisthilfen aufhängen für Vögel und Fledermäuse; deren Kontrolle kostet 600 000 Euro.

Auch beim Bau des Golfplatzes am Neckar in Hofen musste man Eidechsen vergrämen. Und abnehmbare Ballfangnetze aufhängen, damit sich Fledermäuse des Nachts nicht verfangen. Der Abriss der Rathausgarage macht etliche Spatzen heimatlos. Sie nisten in den Efeuhecken. Sie bekommen eine neue Heimat am Rotebühlplatz, sie sollen dort in neu gepflanzte Hecken schlüpfen.

Die Tiere

Man glaubt es kaum, aber es stimmt, der Spatz ist in Gefahr. Er findet immer weniger Futter und Nistplätze. Ebenso geht es der Lerche und der Nachtigall. In Europa leben heute rund 421 Millionen Vögel weniger als vor drei Jahrzehnten. Das ist auch in Stuttgart zu spüren: 300 Schwalben zählt man hier noch. Zwar sind gut ein Drittel der Stadt Landschaftsschutzgebiet und 6,5 Prozent Naturschutzgebiet, doch auch hier gilt: Den Tieren geht Lebensraum verloren. So findet die Gelbbauchunke kaum noch Tümpel, die Eidechsen brauchen sonnige Freiflächen, der Schmetterling mit dem hübschen Namen Wiesenknopf-Ameisenbläuling feuchte Wiesen, Fledermäuse und viele Vögel alte Bäume. Der jüngste Artenschutzreport des Bundesamts für Naturschutz zählt 72 000 Tiere, Pflanzen und Pilze in Deutschland. Knapp die Hälfte stehen auf einer Roten Liste, 11 000 Arten sind im Bestand gefährdet, knapp 3000 sind ausgestorben. Das Fazit des Amts für Naturschutz: „Der Zustand der Artenvielfalt in Deutschland ist alarmierend!

Die Kritiker

Des Überblicks wegen schleppte der ehemalige S-21-Projektsprecher Wolfgang Dietrich einen gerne auf den Bahnhofsturm. Dort zeigte er auf eine Gruppe Bäume im Schlossgartens. „Dass die wegen des Juchtenkäfers stehen bleiben müssen, kostet uns zehn Millionen Euro.“ Er kam zum Schluss, wenn der Artenschutz so wie in Stuttgart gehandhabt werde, werde es keine Stromtrasse zwischen Norddeutschland und Bayern geben. Da war nun eher der Seehofer das Problem denn der Juchtenkäfer, doch das Granteln über den Artenschutz kennt kein Parteibuch.

Unlängst haute Claus Schmiedel einen typischen Schmiedel raus. Der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion nahm sich den Roten Milan vor und sagte, man müsse im Zweifel nicht immer prüfen, ob ein Windrad so einen Vogel am Hinterkopf erwische. CDU-Landeschef Thomas Strobl fordert: „Wir können nicht die Dachbegrünung und den Artenschutz immer mehr perfektionieren und gleichzeitig billige Wohnungen schaffen. Hier brauchen wir andere Prioritäten.“ Landesvater Winfried Kretschmann befand, der Naturschutz dürfe nicht als Hebel gegen den Windkraftausbau missbraucht werden, vielmehr müsse rechtlicher Spielraum genutzt werden. Sein Staatsminister Klaus-Peter Murawski assistiert, man sei gut beraten, den Artenschutz nicht über alles zu stellen.

Die Gesetze

Im Grundgesetz steht in Artikel 20 a: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen . . .“ Wenn Renate Kübler von der unteren Naturschutzbehörde, dem Amt für Umweltschutz, gefragt wird, warum sie sich so engstirnig zeige, zitiert sie Paragraf 1 des Bundesnaturschutzgesetzes. Da steht, Natur und Landschaft seien aufgrund ihres eigenen Werts und als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen zu schützen. Dann gibt es die Richtlinie 92/43 der EU. Darin hat eine Expertenkommission festgelegt, welche Arten strengen Schutz genießen. Dazu zählen Juchtenkäfer und Zauneidechse. Wer einen maßgeblichen Lebensraum einer Art schädigt, kann bis zu fünf Jahre ins Gefängnis wandern.

Die Praxis

Renate Kübler kann es mit Pathos sagen: „Wir schützen die Schöpfung.“ Aber auch ganz nüchtern: „Wir sind die Lobbyisten von Tieren und Pflanzen.“ Das sind sie und ihre Kollegen von der unteren Umweltschutzbehörde, der oberen Naturschutzbehörde, des Regierungspräsidiums, und des Umweltministeriums. Allen gemein ist, dass sie ein breites Kreuz brauchen. „Wir machen uns nicht immer beliebt“, sagt Kübler. Das Kreuz gestärkt hat ihnen 2006 der Europäische Gerichtshof. Er hat damals in einem Urteil den Artenschutz gestärkt. Bis dato musste sich nur verantworten, wer willentlich Tiere tötete.

Auf der griechischen Insel Zakynthos drohten so die letzten Brutstätten der Karettschildkröte verloren zu gehen, weil Bauherren den Strand zupflasterten, Touristen Boot fuhren und über den Strand mit Mopeds bretterten. Alles nicht strafbar, weil man ihnen nur schwer Absicht unterstellen konnte. Im Zweifel wusste man halt nichts von den Schildkröten. Die EU-Kommission klagte, bekam recht. Seitdem ist der Artenschutz sehr viel strenger. Mit Recht, findet Kübler. „Eine Art schützt auch den Lebensraum“, sagt sie, „und wenn die Art verschwindet, verschwindet der Lebensraum.“ Und das unwiederbringlich.