Blick auf den Mondsee und die Drachenwand im Salzkammergut, dem Schauplatz von Arno Geigers neuem Roman Foto: Adobe Stock

Ein Gebirge aus Stimmen: Arno Geigers neuer Roman „Unter der Drachenwand“ handelt von einem jungen Soldaten, den der Krieg aus der Bahn geworfen hat, und von der Nachbarschaft von Tod, Liebe und unvorstellbaren Verbrechen.

Stuttgart - Mit seinem Roman „Es geht uns gut“ hat Arno Geiger vor gut zwölf Jahren den ersten Deutschen Buchpreisgewonnen. Darin schichtet er die Perspektiven dreier Generationen einer Wiener Familie so geschickt ineinander, dass man glaubt, hier erzähle nicht ein Autor, sondern die Geschichte selbst. Zwei Einsichten leiten das Schreiben des 1968 geborenen Österreichers: dass sich dem Einzelnen nur gerecht werden lässt durch seine Einbettung ins Ganze, und dass sich dieses Verhältnis keinesfalls als harmonisches fassen lässt, sondern nur als ein zutiefst antagonistisches, eines der Zerstörung, des Bruchs, der Lebensvereitelung.

Nun eröffnet Arno Geigerdas Literaturjahr mit einem Roman, der die Kunst, aus Faktizität und Fiktion historische Wahrheit zu gewinnen, auf die Spitze treibt. „Unter der Drachenwand“ versetzt in das letzte Kriegsjahr 1944, in dem der in der Ukraine von einem Granatsplitter verletzte Soldat Veit Kolbe zur Genesung einen mehrmonatigen Erholungsurlaub am Mondsee im Salzkammergut bewilligt bekommt. In fünf Jahren an der Front hat er Entsetzliches erlebt und an Entsetzlichem mitgewirkt und dabei seine nie sonderlich ausgeprägte Begeisterung für die „große Zeit“, von der seine Umgebung trotz der sich immer deutlicher abzeichnenden Niederlage immer noch schwadroniert, gründlich verloren.

Visionär des Dokumentarischen

Der Krieg hat ihn aus der Bahn geworfen. Er hat gesehen, was niemand sehen will. Wenn ein Dorf im Weg gestanden sei, hätten sie es einfach weggewischt mit Jung und Alt, vertraut er einer jungen evakuierten Mutter an, die mit ihm das Quartier, später auch das Bett teilt. Heute würde man ihm eine posttraumatische Belastungsstörung attestieren, deren Panikattacken er mit der nationalsozialistischen Kriegspartydroge Pervitin bekämpft – und mit der akribischen Aufzeichnung all dessen, was ihm widerfährt.

„Unter der Drachenwand“ ist ein Buch über das Schreiben in jenem doppelten Sinn, in dem sich der Einzelne seines Erlebens vergewissert und zugleich zum Medium der Geschichte wird. Arno Geiger ist ein Visionär des Dokumentarischen. Und die frappierende, staunenswerte Einfühlung, mit der dieser Autor immer wieder das Geschehen kollektiven oder individuellen Amnesien abringt, verdankt sich einer im Verborgenen stets mitlaufenden privaten Quellen-Spur, die die wuchernden Blüten seiner Vorstellungskraft nährt.

So zieht der neue Roman eine bereits früher gezogene Lebenslinie weiter: Kinderlandverschickung, 1944, Mondsee, das Wirtshaus mit dem Namen Schwarzindien – all dem ist man bereits in „Es geht uns gut“ begegnet. Nun ist es so, als wäre Arno Geiger beim Stöbern auf dem Dachboden der Erinnerung ein weiterführendes Konvolut in die Hände gefallen. Es erhellt das Dunkel des geschichtlichen Moments im sanften Licht vergilbenden Papiers und leuchtet jene versteckten Ecken aus, in die der Strahl der offiziellen Verallgemeinerungen nicht fällt.

An jedem Wort klebt der Krieg

Der Krieg ist am Mondsee nur indirekt präsent: in den unwirklichen Bomber- und Jagdflugzeugformationen die immer wieder am Himmel in wechselnden Richtungen zu den entfernten Schauplätzen des Todes ziehen; in den Kommandotönen, die an dem abgelegenen Ort die Schwarzindien-Mädchen an Drill und Dressur der Zeit gewöhnen; in dem je nach Wochenschaubefund bipolar gestörten Nazismus von Veit Kolbes Quartiersfrau; in den „sieben goldenen W / Wen hat / wer / wann / wo / womit / wie / warum / umgebracht“ über dem Schreibtisch des Onkels, eines Postenkommandanten, die irgendwann auf dessen zynische Krämerseele herabstürzen werden.

Indirekt entwickelt sich auch das Geschehen aus einer behutsamen Redaktion der im Schriftbild in ihrem eigenen Takt kenntlich gemachten Notate, die neben den Aufzeichnungen Veit Kolbes aus eingeschalteten Briefwechseln bestehen: zwischen jungen verboten Liebenden, hart- und warmherzig zugleich agierenden Müttern, Zeugnissen jüdischer Todesfluchten, Bombenkriegs-Verwüstungen. Jeder spricht für sich und der Krieg gegen alle. „An jedem schönen Wort klebt heute der Krieg“, stellt Veits Geliebte einmal fest.

Indem Arno Geiger seinen Roman konsequent durch das Material treibt, entgeht er den Fallstricken einer Täter-Opfer-Relativierung. Wenn hier Einblicke in einen Alltag gewährt werden, der nicht nur aus sauber zurechtgeschminkten Nazi-Schergen und -Profiteuren und ihren Gegenspielern besteht, sondern aus gemischten Gefühlen und eigenartigen Zwischentönen, dann nicht um legitimatorisch Schuld und Leiden gegeneinander zu verrechnen. Die Akribie der Einzelheiten, der feinen Details, der getreuen Stimmenaufzeichnung fügt sich nicht kollektiven Bewältigungskonjunkturen. Das scheidet das schroffe Echogebirge der „Drachenwand“ von den seichten Niederungen eines Erinnerungsinteresses, das melodramatisch die zeitbedingten Schicksale „Unserer Mütter, unserer Väter“ gegen ihr Mitläufer- und Mittätertum in Stellung bringt.

Ein alles Zivile aushöhlender Spuk

Als Veit Kolbe gegen Ende seines Mondsee-Intermezzos in Wien bescheinigt bekommt, tauglich genug zu sein, um in der letzten sinnlosen Brunst des totalen Kriegs verheizt zu werden, begegnet er einer Kolonne von Zwangsarbeitern. Einer von ihnen fällt entkräftet zu Boden. Aus der Entfernung sieht er den immer wieder in die Höhe gehenden und dann niedersausenden Stock eines Wachmanns: „Und der Arm mit dem Stock ging auf und ab wie von einer Schnur gezogen. Wer hielt diese Schnur? Ich? Mag sein.“

Aus Alltagspartikeln und Erlebnistrümmern fügt Arno Geiger zusammen, was die Geschichte zerschlagen hat: Die unfassbare Gleichzeitigkeit von Leben, Liebe, Tod und unvorstellbaren Verbrechen, die schleichende Veränderung dessen, was unter dem Begriff Normalität zu fassen ist, ein „alles Zivile aushöhlender Spuk, in dem das Schlechte in den Menschen immer deutlicher zutage trat“. Nichts, mit dem man schnell fertig werden würde.