In der Innenstadt hoffen viele Bettler auf Münzen von Passanten. Inzwischen bringen sie oft Kinder mit, um ihre Chancen auf eine milde Gabe zu erhöhen. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

In der Landeshauptstadt ist eine neue Stufe erreicht: Mutmaßlich organisierte Gruppen schicken jetzt oft ihre Kinder zum Betteln vor. Die Polizei und das Jugendamt sind machtlos.

Stuttgart - Ein junger Mann spricht einen Passanten an. An seiner Hand: ein Kind, vermutlich seine Tochter. Das kleine Mädchen macht traurige Augen, ein schmerzverzerrtes Gesicht, hat den Kopf zur Schulter gekippt und lässt die Zunge fast leblos aus dem Mund hängen. Ob der Passant etwas Geld habe, fragt der mutmaßliche Vater. Seine Tochter sei krank, er selbst sei Osteuropäer und darum hier nicht versichert. Der Passant winkt ab. War sein verhalten herzlos?

Nicht unbedingt, denn kaum ist klar, dass bei dem Passanten nichts zu holen ist, scheint das Mädchen urplötzlich zu genesen und hüpft an der Seite seines erwachsenen Begleiters quietschfidel davon. Die Masche war offenbar einstudiert.

Bettelnde Kinder in der Klett-Passage

Es handelt sich dabei um keinen Einzelfall: Seit Frühlingsbeginn ist festzustellen, dass immer mehr Bettler aus Osteuropa ihre Kinder vorschicken, um das Herz von Passanten zu rühren und sie zum Zücken des Geldbeutels zu veranlassen. Das beobachtet auch die Polizei: „Seit zwei Wochen berichten die Beamten der Sicherheitskonzeption Stuttgart, dass vor allem in der Klett-Passage tatsächlich Kinder zum Betteln instrumentalisiert werden“, sagt Jens Lauer, ein Sprecher des Polizeipräsidiums Stuttgart.

Schwester Margret von der Franziskusstube hatte bereits 2014 vor dieser Entwicklung gewarnt. „In Frankreich schicken sie schon ihre Kinder zum Betteln vor“, hatte sie damals gesagt. Jetzt haben sich ihre Befürchtungen bestätigt. Erst hielten Bettler Kaffeebecher hin, dann brachten sie Hunde mit, später stellten sie körperliche Gebrechen zur Schau, und jetzt der Trick mit Kindern: Die Bettlerbanden aus Osteuropa scheinen immer dreister vorzugehen. Die vor zweienhalb Jahren in Kraft getretene Allgemeinverfügung der Stadt, die aggressives Betteln mit Sanktionen bekämpfen sollte, hat sich als stumpfes Schwert erwiesen. Und es läuft auch nicht immer so subtil ab, wie es das Vater-Tochter-Gespann an einem Bahngleis in Bad Cannstatt probiert hat.

Wer nicht gibt, wird verwunschen

S1 Richtung Hauptbahnhof während des Frühlingsfests: Eine Bettlergruppe, vermutlich aus Osteuropa, steigt ein. Plötzlich schwärmen die Kinder in die Bahnflure aus, heben in jedem Abteil die Hand auf. Wer nicht gibt, erntet von den Jungen unschöne Handzeichen und Verwünschungen.

Bahn versucht es mit Durchsagen

Da sich solche Vorfälle häufen, hat die Bahn mit Lautsprecherdurchsagen reagiert. „Wenn wir einen Hinweis erhalten, dass Bettlergruppen unterwegs sind, spielen wir diese ab“, sagt ein Sprecher der Bahn. Mit diesen Durchsagen werden die Fahrgäste gebeten, das Vorgehen der Bettlerbanden nicht durch Geldspenden zu unterstützen.

Viel mehr kann die Bahn auch nicht tun, da es keine rechtliche Handhabe gibt, Bettlern das Bahnfahren zu verbieten, solange sie ein Ticket gelöst haben. Meistens sind sie schon wieder weg, kaum dass sie überhaupt bemerkt wurden.

Frage der Kindeswohlgefährdung

Ein Vergleich mit dem ähnlich großen S-Bahn-Netz der Stadt Mannheim habe gezeigt, dass das Stuttgarter Schienennetz für Bettler aus Osteuropa besonders attraktiv sei. „Wir vermuten, das liegt an den vielen Knotenpunkten und den geringen Abständen von Haltestelle zu Haltestelle“, so der Sprecher. Viel Fluktuation, viel Gewinn, denken wohl die Bahn-Bettler.

Auch das Jugendamt hat nur begrenzte Möglichkeiten, dem neuen Vorgehen entgegenzuwirken. Selbst wenn Polizei und Ordnungsamt im Außendienst feststellen, dass Kinder von ihren Eltern für Bettelaktionen benutzt werden, ist ein Eingreifen für die Behörde schwierig. „Wenn keine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung vorliegt oder die Kinder nicht offensichtlich sehr krank sind, sind uns die Hände gebunden“, sagt Barbara Kiefl vom Jugendamt.

Eingriffe in Familien schwierig

Also bleibt es bis jetzt dabei, dass die Einsatzkräfte der Sicherheitskonzeption Stuttgart (SKS) die Bettler kontrollieren, gegebenenfalls anzeigen und, wenn Kinder im Spiel sind, auch deren Alter protokollieren und die Fälle dem Jugendamt melden. „Wir können die Kinder den Eltern nicht wegnehmen“, sagt Polizeisprecher Lauer.

Und Betteln ist auch für das Jugendamt kein Grund, automatisch mit drastischen Maßnahmen in die Familien einzugreifen. „Für das In-Obhut-Nehmen, was der letzte Schritt ist, um das Kindeswohl zu sichern, reichen gemeinsame Bettelaktionen von Eltern und Kindern nicht“, erklärt Kiefl.

Wasser und Fünf-Euro-Scheine

Auch wenn sich minderjährige Bettler an Bahnhöfen und in den Zügen ballen, heißt das nicht, dass sie nicht auch an anderen Orten aktiv wären. Etwa in der Altstadt: Einmal pro Woche kommt ein Bub in die Kneipe Immer Beer Herzen an der Hauptstätter Straße, bettelt um Geld und ein Glas Wasser, während seine Eltern draußen warten. Die Wirtin Henriette Trauer kommt seiner Bitte in der Regel nach. Als sie ein Mal hart blieb, sei sie beschimpft worden. „Das hat mich schockiert“, sagt sie. Beim nächsten Mal hat sie dem Buben wieder ein Glas Wasser und einen Fünf-Euro-Schein gegeben. Schließlich seien es immer noch Kinder.