Nach der Apokalypse: Armin Petras inszeniert Samuel Becketts „Glückliche Tage“ im Stuttgarter Kammertheater mit viel Untergangsstimmung.
Stuttgart - Eine halbe Frau ragt aus dem Plastikmüll der Zivilisation, mit unverbindlichem Lächeln sagt sie sich: „Beginne Winnie, beginne deinen Tag, Winnie“. Mit frappierend liebevoller Ignoranz stattet Franziska Walser ihre Winnie aus, am Freitag bei der Premiere von Samuel Becketts 1961 uraufgeführtem Drama „Glückliche Tage“. Winnie und Willie, eine kann sich kaum mehr bewegen, einer hört kaum, zwei verlorene Figuren, die nichts zu erwarten haben und unterschiedlich auf die Absurdität des Daseins reagieren. Walsers Winnie ist eine mütterlich sanft wirkende Frau, die sich gerade von einer Stuttgarter Halbhöhe aufgemacht haben könnte, um sich in der Stadt beim Bummeln einen schönen Tag zu machen. Gedankenlos putzt sie sich die Zähne mit den Fingern, dass es nur so quietscht, während sie die Bürste in der Hand hält. Kokett ruft sie nach ihrem am Kopf blutenden „Will-llie“ (Peer Oscar Musinowski), schnalzend die zweite Silbe betonend.
Mit ihrer unbekümmerten Haltung strahlt sie eine Positivität aus, die in krassem Gegensatz zu all dem steht, was sie umgibt. Regisseur Armin Petras nimmt sich für seine Inszenierung im Stuttgarter Kammertheater eine Beckett-Zeile zu Herzen. Es ist die viel zitierte Anmerkung zur Neckarstraße, die man in Stuttgart sehen sollte - und die durch das nahe gelegene Neckartor und die Feinstaubdebatte gewisse überregionale Bekanntheit erreicht hat: „Der Anreiz des Nichts ist dort nicht mehr das, was er einmal war, weil man eben den sehr starken Verdacht hat, längst mitten darin zu sein.“
In dieser „versengten Grasebene“ von Beckett wächst längst kein Grün mehr, dies ist ein industriell verseuchter Unort und die Apokalypse längst im Gange. Bühnenbildnerin Kathrin Frosch häuft Plastikmüll auf ein Podest, das von papiernen Stellwänden umgeben ist. Oben klafft ein Loch, als wären Winnie und Willie durch die Decke ins Nichts gekracht. Auf Video (Rebecca Riedel) sieht man rote Sonnen vor schneebedeckten Bergen, fallende Gesteinsbrocken, aus einem Schacht werden Plastikwolken gepustet, vom Himmel fällt Asche.
Franziska Walser beeindruckt mit glasklarer Sprachkunst
Willie ist, anders als bei Beckett, nicht zehn Jahre älter als Winnie, sondern deutlich jünger. Ihm fällt der Part desjenigen zu, der vergessen hat, wie imprägnierend bürgerlicher Selbstbetrug sein kann. „Es wird ein glücklicher Tag gewesen sein“? Sicher nicht für ihn. Ein Wesen, schier sprachlos wie ein Tier, mit aggressiven Anfällen, wenn er hinter Winnie stehend große böse Schatten wirft, die sie mit dann doch etwas irritiertem Gesichtsausdruck im Spiegel beobachtet. Meist sieht man ihn ungelenk hinkend und wankend, winselnd, sich windend. Später posiert er mit Chaplin-Hut, zuletzt wird aus Becketts „todschickem Cutaway“ ein weißer Anzug: Auftritt als Cyber-Punk mit Spiegelauge und Silberkopfschmuck, als wollte er sich schon mal für eine apokalyptische Welt passend kleiden.
Die disparate Figurenzeichnung wirkt wie ein Theaterkommentar. Peer Oscar Musinowskis grobmotorisch wilder Willie, ein einziges Zitat der Film- und Popkultur, trifft auf Franziska Walsers klassische Beckett-Winnie, die mit glasklarer Sprachkunst, nuancierten Blicken, Tönen, Gesten beeindruckt. Und mit Slapstick: Wenn sie die Contenance verliert und den blöde Willie anbrüllt: „Rein in dein Loch“, wirft sie mit Plastikschnipseln, die aber so leicht sind, dass sie damit nicht mal einer Fliege etwas zu leide tun könnte. Heiterkeit, die sich verliert, wenn sie als Wutbürgerin selbst unbeweglich bleibt, aber wütend fordert, „irgendetwas muss sich bewegen, in der Welt.“
Eine Figur verkörpert die feine Franziska Walser, die weiß, alles, auch das, was so ein bis an die Fingernägel versilberter Post-Apokalypse-Now-Willie ihr da präsentiert, ist nichts wirklich Neues. Alles schon mal da gewesen! Sie stemmt sich allein mit ihrer Sprache dem Irrsinn entgegen. Die Operettenzeilen aus Lehars „Die lustige Witwe“,„Lippen schweigen/ s’flüstern Geigen/ hab mich lieb!“, mit denen Beckett endet, sind in einer Grammofon-Szene auf Platte längst abgespielt. Vor diesem (Theater-)Ende ist das Wort. Das ist bei aller Untergangsstimmung bemerkenswert und nicht nichts.
Die nächsten Termine: 6., 10., 11., 14., 15. März, 7., 8. 11., 12. April. Karten: 07 11 / 20 20 90