Spirituelles Vereinen von Gottesdienst und Predigt Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Während eines Gottesdiensts das Tanzbein schwingen? Beim sechsten Tango-Gottesdienst in der Steigkirche in Bad Cannstatt gehörte das am Sonntag zum ganz normalen Programm.

Stuttgart - Steif in der Kirchenbank sitzen und während des Gottesdiensts bloß keine Bewegung machen – so mag sich manch einer einen Kirchgang vorstellen. Am Sonntagabend in der evangelischen Steigkirche in Bad Cannstatt sah das jedoch ganz anders aus: Mitten im Gottesdienst standen die Menschen mehrmals auf, tanzten eng umschlungen und in die Musik vertieft miteinander, bevor Pfarrer Til Bauer den Gottesdienst wieder fortsetzte.

Was zunächst ungewöhnlich aussieht, ist für alle Anwesenden am Sonntag aber überhaupt nicht überraschend oder gar störend. Die Gottesdienstbesucher klatschen und freuen sich über den Anblick der tanzenden Paare, die gekonnt miteinander durch den Kirchenraum zu schweben scheinen. „Ich finde es toll, mal etwas Abwechslung im Gottesdienst zu haben, ich gehe gerne in solche Gottesdienste“, sagt beispielsweise eine ältere Besucherin, die extra aus Leinfelden gekommen ist.

Besucher freuen sich über die Besonderheit

Mit solchen Gottesdiensten meint sie Gottesdienste, bei denen „etwas Besonderes passiert“, wie sie weiter erklärt. Leider sei dies nicht ganz so häufig der Fall, deshalb freue sie sich umso mehr über den heutigen Tango-Gottesdienst, den Pfarrer Til Bauer ins Leben gerufen hat und der am Sonntag bereits zum sechsten Mal stattfand. „Ich habe vor 17 Jahren angefangen, Tango zu tanzen. Damals war ich auf der einen Seite Pfarrer und auf der anderen Seite Tangotänzer“, berichtet Bauer. Doch irgendwann wagte er das Experiment und führte beide Seiten zusammen. Wirklich Sorge, dass seine Gemeinde das Konzept des neuen Gottesdiensts nicht annehmen würde, hatte er nicht: „Wir sind eine sehr offene Kirchengemeinde und probieren gerne neue Formen aus.“

Seit er diesen Schritt 2015 gewagt hat, findet der Tango-Gottesdienst nun einmal im Jahr, immer unter einem anderen Motto, in der Steigkirche statt. Dieses Jahr drehen sich die Körper im sakralen Ambiente unter dem Motto „Wer Ohren hat, der höre . . .“.

Tanzlehrerin gibt in Kirche Unterricht

Bevor es am Abend jedoch so weit war, dass der Gottesdienst startete, gab es eine Einführung in die Feinheiten des Tangotanzens von Tanzlehrerin Liane Schieferstein. Sie zeigte den Besuchern, wie die Drehungen gehen und die Bewegungen zur Musik harmonisch wirken. „Es ist schon ganz anders als normale Tänze“, so die 16-jährigen Zwillingsschwestern Emilia und Margarete, die sich über den dunklen Steinboden im Tango bewegten. „Ich finde, das passt sehr gut in die Kirche. Die Kirche hat ja etwas Feierliches und der Tango auch“, finden die beiden, die heute wegen des Tangos von Fellbach in den Gottesdienst gekommen sind.

Mit dabei war auch eine Mutter, die ihre Töchter mit der Tango-Leidenschaft angesteckt hat: „Ich war das letzte Mal schon hier beim Tango-Gottesdienst, und das hat mir so gefallen, dass ich daraufhin Stunden genommen habe,“ so die Christin, die streng katholisch aufgewachsen sei. Dass sie in den Räumen, in denen sie sonst betet, tanzt, findet sie nicht merkwürdig, ganz im Gegenteil: „Gott ist in der Natur und in so vielem, warum nicht auch im Tanz? In Gottesdiensten wird sonst musiziert und gesungen. Und heute wird eben getanzt, ich finde, das macht keinen Unterscheid“, lautete ihr Fazit.

Tango fügt sich in Gottesdienst ein

Tatsächlich fügte der Tango sich harmonisch in den folgenden eineinhalbstündigen Gottesdienst ein und sorgte so für die musikalischen Einlagen zwischen Predigt, Gebet und Segen. „Tango hat nicht nur eine leidenschaftliche, sondern auch eine spirituelle Seite. Daher sind Kirche und Tango kein Widerspruch“, so Tanzlehrerin Schieferstein.