Anke Engelke in „Mutter“ Foto: ARD/Tom Trambow

In einem ungewöhnlichen Dokumentarfilm leiht Anke Engelke ihr Gesicht Frauen, die über ihre Mutterschaft sprechen.

Eine Frau sitzt im Schaumbad und berichtet aus ihrem Leben: Das ist schon mal eine ungewöhnliche Situation für einen dokumentarischen Film. Noch unwirklicher wird die Szenerie wegen des Themas: Die Frau spricht über ihre Frigidität und wie sie einst die Bemühungen ihres Freundes mehr oder weniger teilnahmslos über sich ergehen ließ. Schließlich sei es ihm dank seiner Hartnäckigkeit aber doch gelungen, ihre Leidenschaft zu wecken, sodass sie Sex „als was Wunderbares“ empfinden konnte; das erzählt sie, während sie sich die Haare wäscht.

Kognitive Dissonanz ist ein Begriff aus der Psychologie. Der Zustand entsteht, wenn ein Mensch widersprüchliche oder gar unvereinbare Signale empfängt: Ein Vater schimpft mit seinem Kind, lächelt aber dabei. Dass der Auftakt des Dokumentarfilms „Mutter“ ganz ähnliche Empfindungen hervorruft, liegt jedoch nicht nur an der Konstellation: Die Frau in der Wanne ist zweifelsfrei Anke Engelke, aber die Stimme gehört einer anderen. Fortan beobachtet die Kamera eine Theaterschauspielerin in ihrem privaten beruflichen Alltag, während immer wieder andere Frauen von ihrem Dasein als Mutter und Partnerin berichten. Engelke bewegt dazu auf fast schon unheimliche Weise exakt ihre Lippen, auch die Mimik entspricht perfekt den Schilderungen. Wer nicht weiß, wie sie wirklich klingt, wird keinen Unterschied merken; bis sie plötzlich mit einer gänzlich anderen Stimme spricht.

Kluge Filmkomposition

Verantwortlich für diese ungewöhnliche dokumentarische Form ist Carolin Schmitz (Buch und Regie), die für „Mutter“ 2022 mit dem Hessischen Filmpreis ausgezeichnet worden ist: „Selten sieht man Filme mit dieser Klarheit und inhaltlichen Fülle“, so die Begründung. Ob die „kluge Filmkomposition“, wie es weiter heißt, tatsächlich noch lange nachwirkt, sei dahingestellt, aber die innovative Idee ist in der Tat faszinierend; hätte Schmitz die Frauen in üblichen Interviewsituationen gezeigt, wäre ihr Werk eine Dokumentation wie viele andere geworden.

Anke Engelke in „Mutter“ Foto: ARD/Tom BRambow

Die Entindividualisierung hat zudem einen interessanten Nebeneffekt, der an die Castingshow „The Voice“ erinnert. Dort sehen die Mitglieder der Jury nicht, wer die Lieder vorträgt, sie hören nur die Stimmen der Beteiligten, sodass ihre Bewertung des Gesangs von keinerlei äußeren Faktoren beeinflusst wird. Der gleiche Effekt stellt sich auch in diesem Film ein: Da alle zu Wort kommenden Frauen wie Anke Engelke aussehen, kann sich das Publikum vorbehaltlos auf die Erzählungen konzentrieren.

Schicksal mit vielen Facetten

Vermutlich hat sich Carolin Schmitz viele Gedanken über die Gestaltung der optischen Ebene gemacht. Die Bilder sollen einerseits nicht vom Gesagten ablenken, andererseits aber auch nicht langweilen. Die Idee mit dem fiktionalen Tagesablauf hat jedoch fast zwangsläufig zur Folge, dass noch weitere Dissonanzen entstehen, wenn die von Engelke verkörperte Schauspielerin im Theater frisiert wird und weiterhin scheinbar ihre Monologe hält, auf die ihre Umgebung aber nicht reagiert. Endgültig zur „Dokufiktion“ wird „Mutter“, als die Schauspielerin auf einem Bühnensofa sitzt und plötzlich in ihrem Redefluss von einem Regisseur unterbrochen wird.

Eher beliebig wirken dagegen die Alltagssituationen: Die Frau hängt Wäsche auf, putzt die Fenster, besucht ein Streichquartett. Aus dem Off erklingen derweil die Berichte, in denen die acht Mitwirkenden – das Altersspektrum reicht von 35 bis 70 Jahren – sehr offen über ihr Dasein als Mutter sprechen. So entsteht im Verlauf des Films ein Kaleidoskop aus unterschiedlichsten Lebenswegen, die sich schließlich zu einem Schicksal mit vielen Facetten vermengen.

Mutter. Der Film ist ist der ARD-Mediathek verfügbar.