Architektur to go: Vom Backstein-Ensemble über die Jugendstil-Villa bis zum filigranen Glaspavillon führt der Spaziergang durch Metzingen und die Outletcity. Auf engstem Raum finden sich am Rand der Alb erstaunlich viele ausgezeichnete Gebäude.
Für die einen ein Vergnügen, für die anderen lästiges Sich-die-Beine-in-den-Bauch stehen: Kleider, Koffer, Kochtöpfe, Anzüge, Brillen, Handtücher einkaufen oder beim Sonntagsspaziergang vorm Schaufenster haltmachen und schauen, was man sich gern leisten würde. In geradezu exzessivem Maße möglich ist das in den Shopping-Malls und Outlet-Centern. Und eine besonders große Ansammlung von Niederlassungen von Luxus- und anderen Marken befindet sich vor den Toren Stuttgarts, in Metzingen.
Was mit einem Lagerverkauf für Anzüge begann, hat sich über die Jahrzehnte zu einer kleinen Einkaufsstadt mit Markenstandorten von Bahlsen bis Prada entwickelt, daher auch, weil’s wohl schicker klingt, der Name „Outletcity“.
Konsumfreunde hin, Konsumfeinde her – für Architekturbegeisterte ist ein Metzingen-Spaziergang so oder so lohnenswert. Denn anders als manche solcher Einkaufsquartiere, die so gestaltet sind, dass sie sich etwas an die regionale Baukultur anpassen (meist in einer Kitschvariante), lohnt es sich in Metzingen, nicht nur Schaufenster zu begutachten. Der bequem und ohne nennenswerte Steigungen zu absolvierende Architekturspaziergang führt zu preisgekrönten Gebäuden – auch abseits des Shoppingviertels.
1. Bollicine-Bar
Los geht es in der Reutlinger Straße 71 auf einem kleinen Platz mit viel Bambus (aktuell einem schon geschmückten Weihnachtsbaum auch) sowie Spielmöglichkeiten, Bänken, Stühlen und Outdoor-Sofas – die Sesselchen gehören zur Bollicine& Co Champagner Bar. Das Stuttgarter Architekturbüro Blocher Partners hat in Metzingen viel gebaut, jüngst wurde ihre Bar ausgezeichnet, sie gehört zu den von einer Jury prämierten „Besten Restaurants, Hotels und Bars 2024“.
Die glamouröse Location versteckt sich am äußersten Ende der Outletcity, schwäbische Zurückhaltung vielleicht.
Ausgeschenkt wird in der Tagesbar neben Champagner diverser Hersteller auch Cappuccino, Austern gibt’s, schlichte Croissants ebenfalls. Schaumwein-Anspielungen finden sich gestalterisch sowohl an der champagnerfarbenen Fassade als auch bei der Beleuchtungsinszenierung wieder, fröhlich wie kleine Blasen im Dunkel schwirrenden Lichtern.
2. Geschichte trifft Neubau
Mit oder ohne Rebensaft, weiter geht es in Richtung Innenstadt in die Kanalstraße. Dort findet sich am äußeren Rand der fancy Modewelt erstaunlich deprimierende Garagentristesse, die ist aber nicht das Ziel der zweiten Station.
Sondern die Kanalstraße 6, ein wiederum von Blocher Partners im Jahr 2021 gestalteter Platz mit einem umgebauten Backsteinaltbau und einem Neubau aus Sichtbeton (Kanalstraße 4). Dort begann die Geschichte der Marke Hugo Boss 1877, die Architekten haben das Gebäudeensemble kernsaniert, die alten Strukturen freigelegt. In dem alten Backsteingebäude ist im Obergeschoss ein Museum untergebracht, das über die Geschichte des Ortes informiert und aktuelle Ausstellungen präsentiert.
3. Leben in Rosarot, logieren in Grün
Weiter führt der Spazierweg in Richtung alte Innenstadt, dazu überquert man die Erms und danach die breite Ulmer Straße und dann hält man sich rechts und biegt in die leicht ansteigende Schlossstraße ein, an der Ecke befindet sich ein Bioladen, da bitte links in die Pfleghofstraße spazieren bis zur Nummer 30.
Der Stuttgarter Architekt Michael Meyer hat für seinen Hotelbau mit viel Holz und lindgrüner Fassade 2020 die Auszeichnung „Beispielhaftes Bauen“ der Architektenkammer erhalten und 2019 den „Iconic Award – Innovative Architecture“.
Schräg gegenüber konnte Michael Meyer mit drei Familien jetzt auch noch einen Baugruppenwohntraum verwirklichen, das Gebäude in knalligem Pink bis zu den Fensterrahmen und Balkongeländern ist eine monochrome Freude.
4. Jugendstiljuwel
Wieder zurück nun bitte und links in die Schlossstraße gehen, da stehen einige sich in der Mauser befindende Altbauten neben Wohn- und Geschäftshäusern, die nicht wirklich beachtet werden müssen, doch schon bald taucht ein Juwel auf.
Das Haus in der Hindenburgstraße 15 wurde 1790 errichtet und 1905 in eine Jugendstilvilla umgebaut. Der begrünte laubenartige Eingang, die floralen Fassadenmalereien, die Glasfenster machen auch über hundert Jahre später noch etwas her. 1995 gab es für das sanierte Gebäude ein Denkmalschutzpreis.
5. Architektenhaus
Nach ausgiebiger Bewunderung heißt es nach links abbiegen, da tut sich der Platz der sieben Keltern aus dem Mittelalter, die von der langen Weinbautradition hier zeugen, dann immer geradeaus und links.
Direkt neben einem schon fast zugewucherten Häuschen steht ganz ohne Zaun, dafür mit eigenartig frei stehendem Briefkasten ein schmales Architektenhaus. Entworfen wurde das „Haus E17“ 2012 vom Stuttgarter Büro se-arch Architekten Stefanie & Stephan Eberding. Der Bau erhielt die Auszeichnungen „Beispielhaftes Bauen 2008–2014“ im Landkreis Reutlingen der Architektenkammer sowie den BDA Preis Hugo-Häring-Auszeichnung 2014 des Bundes deutscher Architektinnen für die zeitgemäße Interpretation traditioneller Baukultur.
Dass man der großen Fenster wegen auch im Erdgeschoss mit neugierigen Blicken zu rechnen hat, damit müssen die Bewohner leben – dafür gibt es Vorhänge, oder man schaut zurück auf die Passanten.
6. Fachwerkromantik
Auf dem Weg zurück in Richtung Outletcity liegt ein Fachwerkhaus, das „Wengerter Häusle“ und Inbegriff dessen, was man gemeinhin „malerisch“ nennt.
Aus dem 17. Jahrhundert stammt das sanierte ehemalige Taglöhner- und Weingärtnerhaus, es steht unter Denkmalschutz. Wer wissen will, wie es von innen ausschaut, sollte genussfreudig sein – gelegentlich finden nämlich Weinproben statt.
7. Berühmte Bank
Ein Alternativprogramm wartet einige Meter weiter am Ende des Platzes: Ein pinkfarbenes Etwas, das sich als eine Sitzbank entpuppt, lädt zur kurzen Pause und lässt über die einladende Gestaltung öffentlicher Räume nachdenken.
Die Bank am Eck der Küferstraße 11 bildet einen tollen Kontrast zu den Holzbauten und man kennt sie womöglich vom Museumsquartier in Wien, wo viele solcher Liegesitzbänke zum Ausruhen bereitstehen. Und sie sind zu kaufen: Das Design der Hofmöbel stammt von PPAG architects aus Wien. Die neueste Version, so heißt es auf der Homepage, besteht aus bis zu 70 Prozent Recyclat aus Getränkekartons und „ist am Ende ihrer Lebensdauer wie bisher vollständig recycelbar und bleibt dem Stoffkreislauf erhalten.“
8. Pavillon am Lindenplatz
Nun geht es zum Finale zu einem vielfach bedeutsamen Ort, dem Lindenplatz: im 19. Jahrhundert fand dort der Viehmarkt statt, später wurde er zu einem Verkehrsknotenpunkt umgebaut, heute ist es ein Bereich zwischen Altstadt und Outlet mit einiger ausgezeichneter Architektur in der Nähe. Das Lindenplatz Outlet für Holy wurde von Seidenspinner Architekten aus Metzingen entworfen und 2005 mit dem BDA Hugo Häring Preis geehrt.
Von dort aus heißt es unbedingt weiterschlendern in Richtung Reutlinger Straße 34-38: Riehle + Assoziierte Architekten aus Reutlingen haben am hinteren Lindenplatz drei rasant gerundete Backsteinhäuser entworfen mit Glasflächen, die an der Fassade schön bündig eingepasst sind. Für diese „Geschäftshäuser an der Erms“ gab es 2009 die Hugo Häring Auszeichnung des BDA. Der Stuttgarter Ingenieur und Architekt Werner Sobek ist bei dem Projekt für die Fassaden- sowie Tragwerksplanung verantwortlich gewesen.
Einmal rundherum und dann bitte wieder zurück zum Ziel. Zentral am Lindenplatz 5 findet sich ein filigraner Flachdachglaspavillon, errichtet ebenfalls von Riehle und Partner, für den Entwurf gab es den Preis „Beispielhaftes Bauen“ im Landkreis Reutlingen 2001-2008.
Die Innenarchitektur für die neue „panasiatische Gastro“ namens Champa stammt von Somaa Architekten aus Stuttgart (die jüngst für ein Bauprojekt in Tübingen eine „Hugo-Häring-Auszeichnung“ des BDA erhalten haben) und ist nominiert für den Preis der „Besten Restaurants, Hotels & Bars 2025“. Mut zur Farbe und extravaganter Gestaltung! Der Preis wird erst nächstes Jahr vergeben, ausruhen von dem Architekturspaziergang kann man sich auch so sehr gut dort.
Info
Route
Der Spaziergang ist 2,1 Kilometer lang und ist sowohl in Flipflops wie in Pumps absolvierbar.
An- und Abfahrt
Über outletcity.com lässt sich montags, donnerstags bis samstags ein Platz in einem Bus-Shuttle Stuttgart-Metzingen buchen. Eine individuelle Anreise ist mit der Bahn vom Stuttgarter Hauptbahnhof aus möglich, dann spaziert man vom Bahnhof Metzingen (Württ) in der Eisenbahnstraße 24 in die City.
Einkehren
Schon weil die Fliesen so interessant aussehen, die Bar im Hotel Kitz (Pfleghofstraße 30) schenkt sicher auch gute Limonade aus. Champagner oder Mineralwasser – gibt’s beides in der Bollicine Champagne Bar (Reutlinger Straße 71). Das Hotel Moxy (Reutlinger Straße 60) verfügt über einen lässig gestalteten Aufenthaltsbereich (Design Blocher Partners) mit Bar. Bäckereien finden sich ebenfalls im Outletcenter. In der Altstadt findet sich der hübsche, alteingesessene Bioladen Löwenzahn Naturkostin der Schlossstraße 20-22. Eine Erwähnung im Guide Michelin bekommen hat das Restaurant im Hotel Schwanen (Bei der Martinskirche 10), dort wird auch Frühstück angeboten. Bioladen und Hotel liegen auf der Spaziergangsroute.
Geeignet für
Architekturfans mit oder ohne Faible für Luxus und Gummibärchen, die vielleicht auch gern wandern – die Alb ruft.