Die Häuschen trotzen allem – außer dem Feuer. Foto: Franziska Kraufmann

Am Nordbahnhof ducken sich wehrhafte Häuserdrillinge in die Bögen des Bahnviadukts über ihren Dächern. Ursprünglich waren sie Vierlinge.

Nordbahnhof - Wenn sich die Tür auftut, muss es ein Troll sein, der im Rahmen steht. Sein Haus scheint zu fürchten, dass von oben Unheil droht. Das scheint nicht abwegig, denn oben rumpelt es und rattert.

 

Das Haus trotzt der Gefahr, es zieht das Genick ein und spannt die Schultern, lässt seine Ziegel steil emporsteigen. Sie vereinen sich zu einer wehrhaften Schneide, die allem droht, was einen Angriff von oben plant oder auch nur herniederschwebt. Das Haus trotzt auch den Jahren, mit mäßigem Erfolg, wie die Risse im Putz und dem Lack der Klappläden beklagen. Im zweiten Stock stehen die Fenster offen. Auf einem Sims döst ein Federbett, das sich von den Pflichten der Nacht erholt.

Wer tatsächlich die Tür öffnet, ist eine freundliche Dame. Aber nein, sagt sie, das ist keinesfalls ein ungewöhnliches Anliegen, dass jemand mehr wissen will über ihr Trollenhaus: „Jeder guckt, fotografiert und fragt.“ Zwei Stockwerke, erbaut nach dem Krieg, 80 Quadratmeter Wohnfläche plus Bühne, Garten vorn und hinten. Das sind die kahlen Fakten.

„Gegenüber, da ist es laut“

Der Hausbesitzer, die Bahn, neigt nicht zu Renovierungen. Sie haben alles selbst gemacht, ihr Mann und sie mit ihrem Schwiegervater, das Laminat auf dem Boden verlegt, die Gartenwege neu geplättelt, das Dach gedämmt, die Fenster erneuert. Und es ist gar nicht laut hier drin, wenn es über dem wehrhaften Dach grollt. „Gegenüber, da ist es laut“, sagt sie. Ihr Mann hat einst dort gewohnt.

Stünde das Haus im Wald, würde kein Wanderer zweifeln, dass er das Heim der Frau Holle entdeckt hat. Aber hier wird nicht der Winter ins Land geschüttelt, und ohnehin trägt keine Frau Holle Jeans. Das Haus steht nicht im Wald, in einer Umgebung, die ihm angemessen wäre mit seinem Jägerzaun und dem eisernen Halbrund über dem Gartentor, an dem im Sommer die Ranken emporklimmen.

Das Haus steht am Nordbahnhof, an der Rosensteinstraße, und es hat Geschwister. Sie sind Drillinge, so gleich, als hätte jemand eins von ihnen gebaut und es auf den Kopierer gelegt. Wären zwischen ihnen keine Tannen gewachsen, würden sie ständig ihr Spiegelbild sehen. Einst waren sie zu viert, aber Nummer vier ist verstorben, abgebrannt.

Musterbauten für platzsparendes Wohnen

Der Grund, warum hier so viele klingeln und fragen, ist nicht, dass sich die Drillinge so mutig wie schmächtig der schieren Masse eines fünfgeschossigen Jugendstilblocks entgegengestellt haben, jedenfalls nicht allein. Der Grund rauscht über dem spitzen Dachfirst hinweg: ein Zug. Die Häuser sind in die Bögen der Bahnbrücke hineingebaut, die sich über ihren Schornsteinen spannt. Es scheint, als stünden sie trotzig und wollten nicht weichen, weil schließlich sie sich zuerst hier niedergelassen haben. Aber das Viadukt über ihrem Kopf ist schon Ende des 19. Jahrhunderts erbaut worden. Die Häuser waren Musterbauten nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. „Platzsparendes Wohnen“ hieß das Programm. Die Drillinge gelten als Zeugen der damaligen Zeit. Deshalb dürfen sie nicht einfach abgerissen werden.

Frau Holle in Jeans wird sich trotzdem trollen. Die Familie ist nicht aus irgendeiner Not heraus hier eingezogen, sagt sie, „wir haben eine Eigentumswohnung in Wangen“. Es gefällt ihnen einfach, ihr hutzliges Hexenhäuschen, für die Kinder direkt am Rosensteinpark und für den Einkauf nur einen Fußweg in die Stadt. Als die Schwiegereltern hier auszogen, zehn Jahre ist’s her, haben sie einfach die günstiger Gelegenheit genutzt.

Aber Nummer drei steht bereits leer. Dort soll ein Baubüro Quartier beziehen. „Dann nehmen sie uns den Garten weg“, sagt die Frau, „ich hab’ so ’nen Hals“. Das Gelände hinter den Drillingen gehört zu der Fläche, die wegen Stuttgart 21 zur Baustelle wird. „Und ich will nicht auf einer Baustelle leben.“ Aber ihr Trollenhaus wird auch dieser trotzen.