Fast täglich wird in diesen Monaten irgendwo in der Republik gestreikt. Foto: dpa/Jörg Carstensen

Deutschland streikt mit wachsender Intensität. Gewerkschaftsforscher registrieren für 2022 mehrere tausend Arbeitsniederlegungen mit insgesamt 930 000 Streikenden. Dieses Jahr lässt eine noch stärkere Mobilisierung erwarten.

Die scheinbar unablässigen Proteste in diesem Frühjahr bei Post, Bahn und öffentlichem Dienst verfestigen den Eindruck, dass sich in Deutschland eine neue Streikkultur anbahnt. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hat seine Arbeitskampfbilanz 2022 vorgelegt, wonach sich das Arbeitskampfgeschehen auf einem im Vergleich der vergangenen Jahrzehnte „eher mittelhohen Niveau verstetigt“. Im aktuellen Jahr könnte es eine weitere Steigerung geben – dazu sind die Zahlen für 2023 aber noch nicht berücksichtigt.

 

674 000 Arbeitstage ausgefallen

Für das vorige Jahr wurden der Studie zufolge 225 Arbeitskämpfe registriert. In deren Verlauf gab es mehrere tausend Arbeitsniederlegungen mit insgesamt 930 000 Streikenden. Rechnerisch fielen dadurch 674 000 Arbeitstage aus. Gegenüber 2021, als 221 Arbeitskämpfe mit 909 000 Streikenden und 596 000 Ausfalltagen festgestellt wurden, habe sich das Arbeitskampfgeschehen somit leicht erhöht.

Verdi führt die meisten Streiks

Etwa die Hälfte der Arbeitskämpfe (52 Prozent) fand demnach im Dienstleistungssektor statt. 44 Prozent fielen in den Organisationsbereich von Verdi – womit diese Gewerkschaft die meisten Streiks verzeichnete. 32 Prozent der Arbeitskämpfe wurden von der IG Metall organisiert, gefolgt von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) mit 13 Prozent. Gemessen an ihrer Mitgliederzahl ist die NGG im Gewerkschaftsbund am häufigsten in Arbeitskämpfe involviert.

Weitere sieben Prozent entfielen auf die übrigen DGB-Gewerkschaften sowie vier Prozent auf Gewerkschaften außerhalb des DGB, etwa die Ärztegewerkschaft Marburger Bund, die Vereinigung Cockpit und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die sich den Ruf einer besonders streikfreudigen Organisation erworben hat.

Im internationalen Vergleich bewege sich das Streikvolumen in Deutschland weiterhin im unteren Mittelfeld, heißt es. Nach der Schätzung des WSI fielen hierzulande in den zehn Jahren zwischen 2012 und 2021 – dem jüngsten Jahr, für das internationale Vergleichsdaten vorliegen – auf Grund von Arbeitskampfmaßnahmen im Jahresdurchschnitt pro 1000 Beschäftigte gut 18 Arbeitstage aus.

Im Ländervergleich variiere das Arbeitskampfvolumen deutlich – insgesamt wird eine Spitzengruppe mit Belgien, Frankreich und Kanada ausgemacht. Das höchste Arbeitskampfvolumen habe erneut Belgien, wo zwischen 2012 und 2021 im Jahresdurchschnitt knapp 96 Ausfalltage pro 1000 Beschäftigte zu verzeichnen gewesen seien. Dahinter folgen Spanien sowie die Nordländer Dänemark, Finnland und Norwegen.

„Verteilungskonflikt deutlich intensiviert“

Für das aktuelle Jahr deuteten hohe Warnstreikbeteiligungen in diversen Tarifkonflikten darauf hin, dass das Arbeitskampfvolumen noch erheblich zunehmen könnte, so die WSI-Forscher. Allein bei dem von Verdi und EVG organisierten „Megastreiktag“ am 27. März im Verkehrssektor sollen sich laut den Gewerkschaften mehr als 150 000 Beschäftigte beteiligt haben. „Vor dem Hintergrund historisch hoher Inflationsraten hat sich der Verteilungskonflikt deutlich intensiviert“, erläutert der Tarifexperte Thorsten Schulten. „Hinzu kommt, dass der zunehmende Arbeits- und Fachkräftemangel die Verhandlungsposition der Beschäftigten stärkt und damit die Bereitschaft fördert, sich an Arbeitskampfmaßnahmen zu beteiligen.“

Etwa jeder sechste Beschäftigte hat Streikerfahrung

Erstmals werden in der Arbeitskampfbilanz Befunde über Streikerfahrungen vorgestellt, die im Rahmen der Erwerbspersonenbefragung der Böckler-Stiftung erhoben wurden. Demnach verfügt etwa jeder sechste Beschäftigte (17 Prozent) über praktische Arbeitskampfkenntnisse; etwa die Hälfte von diesen hat mehrmals an Streiks teilgenommen. Erwartungsgemäß ist die Konflikterfahrung unter Gewerkschaftsmitgliedern mit 49 Prozent deutlich größer als bei Nicht-Mitgliedern (11 Prozent). Zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es hingegen mit 16 beziehungsweise 18 Prozent der streikerfahrenen Beschäftigten kaum noch Unterschiede.

Die Arbeitskampf-Bilanz des WSI ist eine Schätzung auf der Grundlage von Gewerkschaftsangaben und Medienberichten. Es kann zu Abweichungen gegenüber den tatsächlichen Zahlen kommen: Warnstreiks, vor allem lokal begrenzte, würden nicht von allen Gewerkschaften erfasst, heißt es. Auch Streiks außerhalb des Tarifgeschehens, wie etwa betriebliche Proteststreiks, würden nur in Ausnahmefällen bekannt.