Foto: Sarah Blee

Das staunenswerte neue Stadtmuseum Antwerpens als Impulsgeber für die Stadtentwicklung.

Antwerpen/Stuttgart - Stadtentwicklung ist ohne architektonische Zeichen, ohne Sinnbilder des Wollens, nicht denkbar. Nur zu gerne schiebt man, gerade auch in Stuttgart, diesen einfachen Zusammenhang beiseite. Umgekehrt ist die internationale Beachtung groß, wenn Architektur ein Ausrufezeichen setzt.

"Brüssel ist die Kapitale, Antwerpen ist das Kapital", sagt man in Belgien. Wenn auch der Diamanthandel angesichts der Konkurrenz in Asien an Bedeutung verliert. Aber Antwerpen ist auch Belgiens Tourismusziel Nummer eins, Dank des goldenen 16. Jahrhunderts mit seiner Prachtarchitektur und Dank Peter Paul Rubens, der hier dieselbe Rolle spiel wie Rembrandt in Amsterdam.

Doch die Gegenwartskultur steht dem historischen Erbe nicht nach. Das Königliche Ballett von Flandern steht hoch im Kurs, Mode und Schmuckdesign setzen internationale Trends. Hin und wieder macht Antwerpen auch architektonische Schlagzeilen, etwa durch den exaltierten Justizpalast, den Richard Rogers als städtebaulichen Akzent an den monströsen Autobahnring südlich der Altstadt setzte, oder durch die neue Hafenbehörde, die Zaha Hadid demnächst bauen wird. Und nun das neue Museum aan de Stroom, kurz MAS, ein Leuchtturmprojekt, das als Initialzündung für ein ehrgeiziges städtebauliches Entwicklungsszenario fungiert.

Am Strom steht es nicht direkt, sondern zwischen den beiden historischen Hafenbecken Bonapartedok und Willemdok. Napoleon hatte hier unmittelbar vor der barocken Stadtbefestigung das erste, durch Schleusen vom Tiedenhub der Scheldemündung abgetrennte Hafenbecken anlegen lassen. Von hier aus plante er, die "Pistole auf das Herz Londons" zu richten und England zu attackieren.

Das etwa 35 Hektar umfassende älteste Hafenareal Eilandje dämmerte seit Jahrzehnten als verrufenes Rotlichtviertel vor sich hin, nachdem der moderne Hafen mit ganz anderen Dimensionen sich nach Norden verlagert hat. Wie Hamburg, Amsterdam oder London, nur einige Jahre später, ergreift nun Antwerpen die Chance, sein obsoletes altes Hafengebiet in Innenstadtnähe zu einem boomenden Stadtteil zu entwickeln. Das MAS spielt in diesem Zusammenhang als Booster die entscheidende Rolle.

Während Konkurrenten wie Bernard Tschumi, MVRDV, Tadao Ando oder Future Systems im Wettbewerb 1999/2000 flachere Baukörper vorschlugen, schraubten die Rotterdamer Architekten Willem Jan Neutelings und Michiel Riedijk bei ihrem Entwurf die Baumassen buchstäblich in die Höhe und schufen damit das neue Wahrzeichen der Stadt. Ein Hafenspeicher sollte es sein, gestapelte Kisten aus der Vor-Containerzeit sollte der Bau symbolisieren, und so türmten die Architekten zehn Geschosse aufeinander, Foyer, Verwaltungsgeschoss, sieben Ausstellungsebenen und obenauf ein Restaurant.

Es ist noch viel zu tun, um die Jugend zu locken

Doch Neutelings Riedijk hatten kein schlichtes Hochhaus mit Aufzugskern im Sinn. Jedes Geschoss kragt um satte neun Meter aus und ist gegenüber dem darunterliegenden um 90 Grad verdreht. Den dadurch entstandenen, sich spiralförmig nach oben windenden Freiraum haben sie mit einem Vorhang aus ondulierten Einscheibengläsern geschlossen, die durch die Wellen stabil stehen und ohne Rahmen und Tragkonstruktionen auskommen. "Boulevard" nennen die Architekten den unbeheizten Spiralraum, der, von zehn Uhr bis Mitternacht frei zugänglich, die Öffentlichkeit ins Haus bringen soll.

Per Rolltreppe lassen sich die Besucher nach oben tragen und genießen den fantastischen Ausblick über die Stadt, in jedem Stockwerk in eine andere Himmelsrichtung, bis hinauf zur Rundumsicht in 64 Meter Höhe. "Gibt es einen besseren Ort, um sich zu küssen, als die Dachterrasse dieses Gebäudes?", schwärmt der Kulturstadtrat bei der Eröffnung in der vergangenen Woche. Ob das Kalkül aufgeht, muss sich noch zeigen, denn nur mit Küssen und Aussichtgenießen wird man die Flaneure nicht auf Dauer ins Haus locken. Das elegante Restaurant t' Zilte des Zwei-Sterne-Kochs Viki Geunes im obersten Stockwerk ist ein Juwel, aber sicher kein Magnet für das große Publikum. Die zweigeschossigen Eckräume der Spirale werden wohl noch mit Attraktionen auszustatten sein, mit Cafébars und/oder mit Kunstobjekten (wie in der Wettbewerbsfassung vorgesehen). Man ahnt das Potenzial, aber es ist noch viel zu tun, vor allem für die Jugend, die ins Haus gelockt werden soll.

Abgesehen vom gläsernen Vorhang ist der Boulevard an Wänden, Decken und Böden allseits mit demselben roten Sandstein aus Indien verkleidet, der auch das Außenbild des Turms bestimmt und farblich mit den Ziegelbauten im Hafen korrespondieren soll. Neutelings ziert seine Fassaden gerne mit semantischen Aperçus. Am MAS sind es neckische Hände aus Aluminiumguss, das Logo Antwerpens, angebracht auf jeder dritten Fassadenplatte. Im Inneren finden sich 3000 Medaillons aus Aluminiumguss, die jede dritte Platte schmücken. Sie zeigen Scamozzis Plan der Idealstadt Palmanova von 1593, umringt von einem Endlosgedicht und wurden von Tom Hautekiet gestaltet.

Vom Boulevard aus gelangt man in die sieben Ausstellungsgeschosse, fensterlose Boxen, in denen die unterschiedlichsten Ausstellungen präsentiert werden. Denn das MAS ist ein städtisches Haus, in dem drei Museen und mehrere Privatsammlungen zusammengefasst sind, eine Wunderkammer mit historischen, ethnischen, maritimen Sammlungen, mit Kunst aus allen Jahrhunderten und moderner Stadtplanung. Eine hochkarätige Eröffnungsausstellung zeigt fünf Jahrhunderte Bildkultur in Antwerpen und ist schon für sich die Reise wert.

Kaum ein Tourist wird künftig die Stadt verlassen, ohne das MAS gesehen zu haben. Und ohne die Umgebung zu erkunden, die neue Kunstszene, das in Bau befindliche Auswanderermuseum, die Strandbars, den Yachthafen und die restaurierten Lagerschuppen mit den Designshops, Restaurants und Eventlocations. Zwei 16-geschossige Hochhäuser mit teuren Apartments stehen schon, vier weitere sollen folgen, in den Erdgeschossen mit Cafés und Boutiquen für Mode und Lifestyle. "Noch laufen die Geschäfte schleppend, aber wir wollten die Ersten sein", sagt die Besitzerin der Lingerie-Boutique und schaut hoffnungsvoll hinüber zum Leuchtturm MAS.