Erdogan bemüht sich nicht zuletzt wegen der Wirtschaftslage in der Türkei um internationales Wohlwollen. Foto: dpa/Gregorio Borgia

Beim Antrittsbesuch des Kanzlers in der Türkei dürfte die Ukraine das beherrschende Thema sein. Der türkische Präsident ist inmitten einer Charmeoffensive.

Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz am Montag zu seinem Antrittsbesuch in die Türkei reist, trifft er auf ein Land, das seine Außenpolitik neu sortiert. Internationale Spitzenpolitiker geben sich derzeit in der Türkei die Klinke in die Hand. Präsident Recep Tayyip Erdogan bemüht sich um Vermittlung im Ukraine-Konflikt und um neue Kontakte zu früheren Partnern, die er in den vergangenen Jahren vor den Kopf gestoßen hatte.

Der Ukraine-Krieg dürfte im Mittelpunkt des Gesprächs von Scholz und Erdogan im Präsidentenpalast von Ankara stehen. Erdogan bemüht sich um Mittelweg. Offiziell steht er auf der Seite der Ukraine, die in den vergangenen Jahren türkische Kampfdrohnen erhalten hatte. Die Türkei hat die Zufahrt zum Schwarzen Meer für alle ausländischen Kriegsschiffe gesperrt, was besonders die Bewegungsfreiheit der russischen Flotte einschränkt. Doch der türkische Präsident achtet gleichzeitig darauf, Russland nicht allzu sehr zu verärgern. Anders als ihre Nato-Partner hält die Türkei ihren Luftraum für russische Flugzeuge offen. An Sanktionen beteiligt sie sich nicht.

Erdogan stellt die eigenen Interessen in den Vordergrund

Erdogan sieht die Türkei als eigenständige Regionalmacht, die ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellt und nicht unbedingt die Haltung von Europa und den USA übernimmt. Das führt trotz seiner Charmeoffensive zu Differenzen mit den westlichen Partnern. Marc Pierini, ein ehemaliger EU-Botschafter in Ankara, wies jetzt in einer Diskussion der Denkfabrik Carnegie Europe darauf hin, dass sich die Türkei nicht an den verstärkten Patrouillen von Nato-Kampfflugzeugen in den osteuropäischen Nachbarstaaten der Ukraine beteiligt. Zur türkischen Rücksicht auf Russland gehört auch, dass Erdogan kritisiert, der Westen habe bei der Entschärfung der Krise versagt.

Scholz dürfte in Ankara vorsichtig auf Erdogans neuen Kurs reagieren. Zwar arbeiten Europäer und Türken seit einiger Zeit beim heiklen Flüchtlingsthema fast geräuschlos zusammen, doch bei anderen Themen gibt es keine Bewegung. Die EU lehnt die türkischen Forderungen nach visafreiem Reisen für Türken in Europa und nach einer Modernisierung der Zollunion weiter ab. Dutzende Bundesbürger sitzen aus politischen Gründen in der Türkei in Haft oder sind mit einer Ausreisesperre belegt. Regierungskritiker in der Türkei hoffen, dass die neue Bundesregierung die rechtsstaatlichen Rückschritte in Ankara entschlossener anspricht als ihre Vorgängerin. Ob Scholz dazu bereit ist, muss sich zeigen. Ein Treffen des Kanzlers mit Vertretern der Opposition und der Zivilgesellschaft in Ankara ist nicht angekündigt.