Der erste Katalog der Stuttgarter Antiquariatsmesse von 1962 Foto:  

Stuttgart hat viele Vorzüge – einige werden zu wenig beachtet, findet Lokalchef Jan Sellner. Dazu zählt die reiche Buch-Tradition der Stadt.

Stuttgart - Wofür ist Stuttgart alles bekannt? Der bayerische Kabarettist Hans Well, ehemals Kopf der Biermösl Blasn und heute mit den Wellbappn unterwegs, hat die Stadt jüngst bei seinem bejubelten Auftritt im Renitenztheater so porträtiert: „Heit sama mitten im Schwaben-Paradies, wo a bezahlbare Wohnung so soitn wia a Sechser im Lotto is. O Gott, wo sama do heit glandt? Im Fahrverbot-Erwartungsland! Wo s’am Neckartor Mooswände aufstoin, die den Feinstaub rausfiltern soin.“ Es folgen Verse über den VfB („auf den ma si schon heit in der Zweiten Bundesliga freit“) und den unterirdischsten Bahnhof der Welt („Friederike geht, aber Stuttgart 21 bleibt“). Ganz schön frech – aber so weit ist das Kabarett als Konzentrat der Wirklichkeit von dieser ja nicht entfernt. Tatsächlich verbinden viele Leute heute mit Stuttgart die Schlagworte Stuttgart 21, Feinstaub, Fahrverbote, Wohnungsnot. Begriffe, die dem Image der Stadt buchstäblich Schläge versetzen.

Glücklicherweise ist auch auf der Habenseite einiges zu finden: Ballett, Theater, Oper, überhaupt die Kultur. Und klar, die Wirtschaftskraft. Dazu kommen die landschaftlichen Vorzüge Stuttgarts als waldreichster deutscher Großstadt. Auch die Mischung aus Internationalität und dem zumindest in Restbeständen vorhandenen lokalen Idiom ist zu nennen. In Stuttgart wird „der erotischste Dialekt der Welt“ gesprochen, findet Kabarettist Well. Unterstellt, der Mann aus Oberbayern meint ernst, was er sagt.

Die Stadt des gedruckten Wortes

Leider sagt niemand – auch kein Kabarettist –, dass Stuttgart noch viele weitere Vorzüge hat. Dass es zum Beispiel die Stadt der Mineralbäder ist – eine von den Stuttgartern selbst notorisch unterschätzte Qualität. Oder dass Stuttgart die Stadt des gedruckten Wortes ist, vor allem auch des besonderen Buches. Dieses Wochenende ist Anlass, an diesen abseits des bibliophilen Publikums fast verstummten Ruf zu erinnern. Im Kunstgebäude am Schlossplatz freuen sich 65 Aussteller aus dem In- und Ausland über Besucher der 57. Antiquariatsmesse – einer der angesehensten und ältesten Messen für historische Bücher, Handschriften und Grafiken im deutschsprachigen Raum. Nahezu zeitgleich findet in Ludwigsburg im wunderbaren Ambiente der Musikhalle die gleichfalls angesehene 32. Antiquaria mit 42 Ausstellern statt. Besuchern „unter 32“ steht sie gratis offen. Behält man diese Systematik bei, gilt spätestens bei der 100. Antiquaria: freier Eintritt für alle. Doch das nur am Rande.

Bekanntschaft mit einer eigentümlichen Welt

Wichtig ist etwas anderes: die Pflege der Kulturgüter Schrift, Buch und Grafik – alles Gedruckten. Ein Gang über diese Messen ist wie das Eintauchen in Geschichte, vergleichbar einem Museumsbesuch und doch wiederum nicht, weil hier geblättert, gehandelt und gekauft werden kann – nicht muss. In jedem Fall ist es lohnend, Bekanntschaft mit dieser eigentümlich-altertümlichen Welt zu machen, die quer zur virtuellen Welt zu stehen scheint, wiewohl sich längst auch viele Antiquare aufs Internet verlegt haben.

Der Wandel ist augenfällig. In den sechziger Jahren zählte Stuttgart, einst ein Zentrum des Schrift- und Buchgestaltens, mehr als 20 Antiquariatsgeschäfte, heute sind es noch zwei. Stabilisierend wirken die beiden Antiquariatsmessen; die Synchronisierung der Veranstaltungen in Stuttgart und Ludwigsburg hat die Wahrnehmung erhöht und dem Thema selbst gut getan, ablesbar am regen Besucherinteresse. Es lebt also noch, das gute alte Buch – ein Glück auch für Stuttgart.

jan.sellner@stzn.de