Mit einer komplizierten astronomischen Rechenmaschine haben die antiken Griechen den Lauf der Himmelskörper berechnet. Der Mechanismus von Antikythera, eine mehr als 2100 Jahre alte Zahnradapparatur, ist weit komplexer als alle bekannten technischen Geräte, die in den folgenden 1000 Jahren entwickelt wurden. Und er ist immer noch für Überraschungen gut.
Als Schwammtaucher im Jahr 1900 in rund 60 Meter Tiefe ein Schiffswrack vor der griechischen Insel Antikythera zwischen dem Peloponnes und Kreta fanden, konnten sie nicht ahnen, was für eine unglaubliche Entdeckung sie gemacht hatten. Unter den auf dem Meeresboden verstreuten Gegenständen befand sich auch ein völlig korrodierter Bronze-Klumpen, mit dem sie zunächst nichts anfangen konnten.
Uhrwerkartiger Mechanismus für Seefahrer
Das rätselhafte Artefakt kam ins archäologische Museum von Athen, wurde gereinigt, unter die Lupe genommen und unter dem Namen Mechanismus von Antikythera weltberühmt. Was die Spatenforscher damals freilegten, gilt bis heute als eine der faszinierendsten Entdeckungen der Archäologie: ein uhrwerkartiger Mechanismus, den Geräten ähnlich, die Seefahrer erst viele Jahrhunderte später als Zeitrechner und Orientierungsgerät nutzten.
Schon die Entdeckung löste Erstaunen und Ratlosigkeit unter Wissenschaftlern aus und regte die Fantasie der zeitgenössischen Presse an. „Stammt der Antikythera Mechanismus aus einer anderen Welt?“ fragte ein Kommentator der Zeitung „Akropolis“ im Jahre 1902.
„Himmelscomputer“ der Antike
Der Antikythera-Mechanismus gilt als das komplexeste Gerät der Antike und als erster früher „Himmelscomputer“. Bis heute ist er nicht vollständig entschlüsselt. Auch, weil nur Fragmente des bronzenen Räderwerks erhalten geblieben sind. Moderne Forscher fanden heraus, dass auf den Zahnrädern des Gerätes eine Art Gebrauchsanweisung eingeritzt ist. Vom Gerät fehlen aber einige Teile, wie ein Hebel, mit dem seine Zahnräder bewegt werden konnten.
Mit dieser astronomischen Rechenmaschine haben die antiken Griechen den Lauf der Himmelskörper berechnet. Die zwischen 150 und 100 v. Chr. auf der Insel Rhodos von dem Astronomen Poseidonius konstruierte Zahnradapparatur ist weit komplizierter als alle bekannten technischen Geräte, die in den folgenden 1000 Jahren entwickelt wurden.
Wozu diente der astronomische Rechner?
Der Mechanismus besteht aus mehr als 30 bronzenen Zahnrädern, die ursprünglich vermutlich in einen Holzkasten eingebaut waren. Experten nehmen an, dass das Gerät als astronomischer Kalender genutzt wurde, mit dem sich die Position und Bewegung von Himmelskörpern berechnen ließ.
Der Text auf dem Gerät ist astronomischer Natur. Viele Zahlen können mit Planetenbewegungen in Verbindung gebracht werden. Die Frontscheibe zeigt die Position von Sonne und Mond im Tierkreis an sowie einen Kalender, der an die Schaltjahre angepasst werden kann.
Die Scheiben auf der Rückseite dienten zur Bestimmung zweier weiterer astronomischer Zyklen. Die Apparatur erlaubte es zudem, eine Sonnen- oder Mondfinsternis vorherzusagen. In einem der Mechanismen sehen die Forscher die mechanische Umsetzung einer astronomischen Theorie des Griechen Hipparchos. Er hatte im zweiten Jahrhundert v. Chr. eine Theorie entwickelt, die die Unregelmäßigkeit der Mondlaufbahn um die Erde erklärt.
Zeugnis für technologisches Potenzial der antiken Griechen
Der Antikythera-Mechanismus bezeugt das außergewöhnliche technologische Potenzial der Griechen im Altertum, das während der Zeit des Römischen Imperiums scheinbar verloren gegangen war. Und er überrascht noch immer. Denn jetzt haben Graham Woan und Joseph Bayley von der University of Glasgow einen Irrtum in Bezug auf den Kalenderring aufgedeckt. Ihre Studie ist im Fachmagazin „The Horological Journal“ erschienen.
Den Analysen zufolge trug dieser Ring nur 354 oder 355 Tagesmarker statt wie bisher angenommen 365. Der Mechanismus orientierte sich demnach nicht am Sonnenjahr, sondern am griechischen Mondjahr. Die Analysen enthüllen auch, wie unglaublich präzise die Konstrukteure vor mehr als 3000 Jahren arbeiteten.
Klar scheint aber, dass das komplizierte Ensemble aus mehr als 30 Zahnrädern, Zifferblättern und Zeigern zahlreiche Funktionen in sich vereinte: Es konnte unter anderem Finsternisse und Zyklen von Sonne und Mond anzeigen, die Planetenpositionen und die Olympiaden.
Was zeigt der Kalenderring?
Eine weitere Funktion übernahm der Kalenderring im sogenannten Fragment C des Antikythera-Mechanismus. Von diesem beweglichen, direkt neben den Tierkreiszeichen-Ring gelegenen Bauteil ist nur rund ein Viertel erhalten. Auf dem Kalenderring sind in regelmäßigen Abständen Striche eingraviert.
Parallel dazu weist die unter dem Ring liegende Führungsgrube regelmäßige Löcher auf, möglicherweise zur Arretierung der Tagesposition. Das erhaltene Ringviertel trägt zudem drei ägyptische Monatsnamen in griechischer Schrift.
„Deshalb galt dieser Kalenderring allgemein als nicht weiter bemerkenswertes Beispiel für einen ägyptischen Kalender“, erklären die Forscher.
Ägyptischer Sonnenkalender oder griechischer Mondkalender?
Der in der Antike weit verbreitete ägyptische Sonnenkalender ging von einem Jahr mit 365 Tagen aus, das in zwölf Monate mit jeweils 30 Tagen und fünf Zwischentage unterteilt war. Tatsächlich ist jeder 30. Strich im Kalenderring etwas länger.
2020 hatte ein Team um den Hobby-Forscher Chris Budiselic auf Basis genauer Vermessungen und mathematischer Berechnungen ermittelt, dass die Führungsgrube des Kalenderrings zwischen 347 und 367 Löcher aufweisen könnte. Auf den ersten Blick scheint auch dies zu einer Einteilung nach dem Sonnenjahr zu passen.
Woan und Bayley diese Annahme noch einmal überprüft. Ihr Ziel war es, die Zahl der Tageslöcher im Kalenderring genauer einzugrenzen. Dafür setzten die beiden Astrophysiker statistische Methoden ein, die sie normalerweise für die Auswertung von Gravitationswellendaten der LIGO-Detektoren nutzen.
„Es liegt eine schöne Symmetrie darin, dass wir Techniken adaptiert haben, mit denen wir heute das Universum erforschen, um mehr über einen Mechanismus zu erfahren, mit dem Menschen vor zwei Jahrtausenden die Himmelsabläufe verfolgten“, erklärt Woan. So errechneten die Forscher erneut die Zahl der Tagesmarker im Antikythera-Mechanismus.
Mondjahr statt Sonnenkalender
Das überraschende Ergebnis: Der Kalenderring umfasst offenbar doch keine 365 Tage, sondern deutlich weniger. „Unser zu 99,9-Prozent verlässliches Intervall reicht von 351,62 und 358,86“, berichten die Forscher. Wenn sie dies auf ganzen Zahlen eingrenzen und von Rissen verdeckte Stellen berücksichtigen, dann kommen sie auf 354 bis 355 Löcher.
„Die 354-Löcher-Annahme ist unseren Berechnungen zufolge 229-mal wahrscheinlicher als 360 Löcher und um Längen wahrscheinlicher als 365 Löcher“, stellen Woan und Bayley fest.
Das aber bedeutet: Die Konstrukteure des Antikythera-Mechanismus orientierten sich offenbar doch nicht am ägyptischen Sonnenjahr. Stattdessen folgte der Kalenderring dem Mondjahr, das elf Tage kürzer ist als das Sonnenjahr. Es dauert 354 Tage. Ein solcher am Mond orientierter Kalender war im antiken Griechenland durchaus gebräuchlich. In diesem hatten die Monate 29 oder 30 Tage, angelehnt an den Zyklus der Mondphasen.
Unglaubliche präzise Konstruktion
Die neuen Analysen enthüllen zudem, wie präzise die Markierungen des Kalenderrings gesetzt waren. „Der Grad der Präzision ist bemerkenswert: Die Standardabweichung in den Lochpositionen liegt seitlich bei nur 0,028 Millimetern und bei den Lochabständen bei nur 0,129 Millimetern“, schreiben die Forscher.
Dies erlaube auch einige Rückschlüsse darüber, wie der Konstrukteur des Mechanismus diese Marker einst setzte. „Wahrscheinlich begann die Fertigung mit dem Einritzen eines Kreises in das Metall“, erklären Woan und Bayley. Dann nutzte der Konstrukteur diesen Kreis als Führungsrille, um seine Punkte präzise auf dem Ringbogen zu platzieren und die Löcher einzuschlagen.
„Der radiale Fehler wird dadurch sehr klein“, so die Forscher. Die Abstände der Löcher erforderten jedes Mal eine neue Messung. „Diese Erkenntnisse steigern meine Bewunderung für den Antikythera-Mechanismus und die enorme Mühe und Kunstfertigkeit, die die griechischen Handwerker in ihn hineinsteckten“, sagt Bayley. „Allein für die Tagesmarkierungen mussten sie extrem genau messen und sie brauchen eine unglaublich ruhige Hand, um sie dann an der korrekten Stelle einzustanzen“ (mit dpa-Agenturmaterial).