Zuschlagen ist kein Mittel zur Konfliktlösung Foto: Kraufmann

In Stuttgart wurde laut Statistik vergangenes Jahr 5500-mal zugeschlagen. 2800 der Gewaltakte spielten sich im häuslichen, 2300 im öffentlichen Bereich ab. Mit Anti-Gewalt-Kursen will die Straffälligenhilfe die Schläger dazu befähigen, Konflikte gewaltlos zu lösen. Der Bedarf ist größer als das Angebot.

In Stuttgart wurde laut Statistik vergangenes Jahr 5500-mal zugeschlagen. 2800 der Gewaltakte spielten sich im häuslichen, 2300 im öffentlichen Bereich ab. Mit Anti-Gewalt-Kursen will die Straffälligenhilfe die Schläger dazu befähigen, Konflikte gewaltlos zu lösen. Der Bedarf ist größer als das Angebot.

Stuttgart - Vier Anti-Gewalt-Kurse werden in Stuttgart pro Jahr angeboten. Zwei sogenannte Sensibilisierungstrainings bei häuslicher Gewalt und zwei Anti-Aggressivitäts-Trainings bei Gewalt im öffentlichen Bereich. „In Stuttgart ist der Bedarf gut doppelt so hoch, und auch landesweit bleibt das Angebot hinter der Nachfrage zurück“, stellt Achim Brauneisen fest. Er ist Generalstaatsanwalt und Vorsitzender des Netzwerks Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg. In Stuttgart bietet die Trainings der Verein Sozialberatung Stuttgart an. Trainer Burak Özüak hat pro Kurs acht bis zehn Plätze zu vergeben – bei 35 Bewerbungen.

Marco hat einen Platz bekommen und das etwa 60-stündige Training absolviert. Der 20-jährige Stuttgarter wurde wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt und Marco die Teilnahme an einem Anti-Aggressivitäts-Training auferlegt. Gewalt auf der Straße war für den 20-Jährigen Alltag. Er deutet auf eine lange Narbe an seinem Hals: „Als ich 16 war, hat mich einer mit einem Messer angegriffen und es mir in den Hals gerammt. Ich wäre fast verblutet“, sagt er. Marcos Motto seither: sich nichts gefallen zu lassen und schneller zu sein als der mögliche Gegner. „Ein dummer Blick oder blöder Spruch haben mir genügt, um zuzuschlagen.“

Das Schlimmste wäre damals für Marco gewesen, vor seinen Kumpels als „Fisch“, als Feigling und Opfer, dazustehen. Einen Monat war er in Untersuchungshaft. Der Richter gab ihm die Chance, statt die Haftstrafe abzusitzen, beim Anti-Aggressivitäts-Training mitzumachen. Dort lernte er, wie sein Auftreten auf andere Kursteilnehmer wirkt, in welchen Situationen er gewalttätig wird und vor allem: Warum er immer wieder zuschlägt. Ziel der Selbsterkenntnis ist, Gewalt durch andere Methoden zur Konfliktlösung zu ersetzen. „Als mich der Trainer fragte, wie ich mich verhalten werde, wenn mir der Messerstecher wieder begegnet, habe ich mit den Schultern gezuckt“, sagt Marco. Er wusste nicht, ob er seine Wut im Ernstfall in Griff bekommt.

Mittlerweile weiß er es. Er hat den Täter von einst zufällig in einer Dönerbude getroffen. „Ich hab’ ihn angeguckt, mich dann weggedreht und weitergegessen“, sagt Marco stolz. Die Begegnung war für den 20-Jährigen die erste große Bewährungsprobe. „Ich bin kurz vor dem Realschulabschluss und will das nicht riskieren. Außerdem soll meine Mutter wegen mir nicht mehr weinen.“

Die meisten Bewerber nehmen nicht ganz freiwillig an den Trainings teil, sondern weil die Alternative Gefängnis heißen würde. Die Kosten liegen pro Teilnehmer 1800 Euro. Bei den Trainings für Jugendliche bezahlen die Vereine, die die Kurse anbieten, 23 Prozent,bei den Kursen für Erwachsene 60 Prozent aus eigener Tasche. Den Rest finanzieren die Kommunen oder Landkreise.

Weil es keinen Sinn mache, Programme zu finanzieren, ohne zu wissen, ob sie erfolgreich sind, wurde laut Brauneisen eine wissenschaftliche Bewertung in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: Von 425 Teilnehmern an den Anti-Gewalt-Trainings an den zehn Standorten in Baden-Württemberg haben 135 Teilnehmer abgebrochen. Doch hätten sich während des Kurses bei fast allen Teilnehmern die Einstellung zu Gewalt und der Gewaltbegriff gewandelt. „Während die Teilnehmer zu Beginn der Kurse nur das Zuschlagen als Gewalt definierten, sahen sie bei Kursende auch in Drohungen Spielarten der Gewalt“, sagt Silke Kienzle-Weidmann, die die Bewertung vorgenommen hat. Unter den Teilnehmern waren nur 17 Frauen. 289 Teilnehmer waren unter 30.

Eine Nachfrage bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft hat laut Brauneisen ergeben, dass nach der Therapie geschätzt nur etwa jeder sechste Schläger rückfällig wird. Wie das nach Verbüßung einer Haftstrafe aussieht, darüber gibt es allerdings weder eine Statistik noch Schätzungen. Dennoch steht für Brauneisen fest: „Die Anti-Gewalt-Trainings sind ein wichtiges Instrument der Justiz.“ Die Vereine, die wie die Sozialberatung Stuttgart im Netzwerk Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg organisiert sind, haben laut Brauneisen aber nicht das Geld, die Kurse flächendeckend anzubieten, und sind deshalb auf Mittel der Landkreise oder Kommunen angewiesen.