Substitution bedeutet, dass Heroinsüchtige eine Ersatzdroge bekommen. So können die Abhängigen auf den Stoff verzichten, ohne den Entzug zu durchleiden. Foto: Archiv Gottfried Stoppel

Erst gekifft, dann Heroin und Kokain: Manuela Kohn aus Heumaden ist den harten Drogen verfallen. Zurzeit ist sie clean und versucht den Aufbruch in ein anderes Leben. Zum Anti-Drogentag erzählt sie ihre Geschichte.

Stuttgart-Heumaden - Die Erdbeeren rufen. Manuela Kohn möchte raus aufs Feld, um die Früchte selbst zu pflücken. Sie will schwimmen gehen, „und ich will wieder öfters Fahrrad fahren“, sagt sie. Also lauter Dinge, die für die meisten Leute kaum der Rede wert sind. Bei Manuela Kohn ist das anders. „Ich will das Leben noch etwas bewusst wahrnehmen“, sagt sie. Die vergangenen Jahrzehnte war das nur selten möglich, sie hat ihr Leben im Rausch verbracht.

Manuela Kohn ist drogensüchtig. Sie ist den harten Drogen verfallen, „meins ist das Pulver, Heroin und Kokain“, sagt sie. Gekifft hat sie früher ein paar Mal, aber die Joints haben ihr nichts gebracht. Zurzeit ist Manuela Kohn clean, sie raucht nur noch Zigaretten. „Ich bin mehr als stabil, obwohl ich alle Gründe hätte zu konsumieren“, sagt sie. Sie versucht den Aufbruch in ein anderes Leben. Nicht zum ersten Mal, doch bisher kam immer etwas dazwischen. Das Schlimmste war wohl, dass ihr die Behörden in den 80er Jahren ihren Sohn weggenommen haben, obwohl sie zu der Zeit gar nicht gedrückt habe. Damals hatte sie einen Rückfall von vielen.

Wie auch immer sich Manuela Kohn diesmal entscheidet, ihre Vergangenheit, die den Drogen gehörte, wird sie wohl nie mehr los. Ihr Gesicht, ihr Körper und ihre Seele sind gezeichnet von all den Jahren des Konsums. Manuela Kohn ist HIV positiv, hat Hepatitis C und Diabetes. Unter ihrem Stubentisch lagern drei kleine Plastiktüten voller Medikamente. Manuela Kohn hat sich fast kaputt gemacht. Die Frau aus Heumaden ist 50 Jahre alt und erwerbsunfähig.

Als 13-Jährige hat Kohn das erste Mal Drogen genommen

Die Geschichte von Manuela Kohn ist tragisch und trist. Es funktioniert nicht, sie schön zu reden. Und alles zu erzählen, würde ein Buch füllen. „Ich bin vom Säuglingsalter an schwerst misshandelt worden.“ Während sie das sagt, wickelt sie sich einen Zipfel ihres Hemds um den Finger. Hinter ihr auf der Sofalehne sitzt ein Herzkissen mit Hut und Händen. Sie sagt, dass ihre Mutter sie nicht wollte. Was Liebe ist, habe sie als Kind nie erfahren, ihre Konstante war Ablehnung. Als 13-Jährige hat Manuela Kohn das erste Mal Drogen genommen. Das war der Beginn eines Absturzes, der fast ein Leben lang dauern sollte.

Sie sagt, sie wollte etwas spüren. Irgendwas. Der Stoff hat ihr das Gefühl von Erhabensein gegeben. Sie stand plötzlich über den Dingen. Außerdem hat sie sich in der Clique geborgen gefühlt. „Ein Problem hält viele Menschen zusammen“, sagt sie. „Früher war alles leicht und easy.“ Bei aller Gemeinsamkeit, jeden Einzelnen hat vor allem eine Frage umgetrieben: Wie er an den nächsten Schuss rankommt.

Manuela Kohn hat insgesamt zehn Jahre hinter Gittern verbracht. Drogensüchtige stehen andauernd mit einem Bein im Knast. Sei es, weil sie dealen, sei es, weil sie andere beklauen, um an Geld zu kommen.

Nur die wenigsten Süchtigen sind ein Leben lang abhängig

Rolf Berger sagt, dass Menschen mit einer Geschichte wie der von Manuela Kohn das Urvertrauen fehle. Er ist Drogenberater bei Release Stuttgart, einem Verein, der seit Anfang der 70er Jahre bei Drogenproblemen hilft. „Etwa zwei Drittel der Frauen, die zu uns kommen, haben Missbrauchserfahrungen“, sagt Berger.

Nur die wenigsten Süchtigen seien ein Leben lang abhängig, „oft verändern sie etwas, wenn jemand Neues, jemand Konstantes in ihr Leben tritt“, sagt er. Wobei die Hilfe eines anderen laut Berger nicht überschätzt werden dürfe. „Es kann passieren, dass die Bezugsperson co-abhängig wird“, sagt er. Deshalb sei es wichtig, dem Süchtigen klar zu zeigen: „helfen ja, aber ich habe auch meine Bedürfnisse“, sagt Berger. In der Beratung bei Release bestimmt der Klient das Ziel. Berger und seine Kollegen unterstützen bei bürokratischem Schriftkram, sie motivieren jene, die clean werden wollen, sie beraten Angehörige und sie helfen den Süchtigen, sich selbst zu helfen.

Manuela Kohn aus Heumaden ist eine Klientin bei Release. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sie substituiert werden kann. Substitution bedeutet, dass sie täglich von einem Arzt eine Ersatzdroge bekommt. „Abschlucken gehen“, nennt sie das. Mit der Scheindroge kann ein Heroin- oder Morphinsüchtiger auf den echten Stoff verzichten, ohne den Entzug zu durchleiden.

Heroin spielt keine große Rolle mehr in der Drogenszene

Die Substitution ist umstritten. Die einen sagen, sie gaukele dem Abhängigen etwas vor und halte die Sucht am Leben. Die anderen sagen, dass dieser Ersatz für viele die einzige Möglichkeit sei, sich vom Stoff zu lösen. Der Drogenberater Berger sagt: „Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.“ Es komme auf den jeweiligen Menschen und die Umstände an.

Der Job von Release ist nicht nur, bereits Abhängigen beratend zur Seite zu stehen. Es geht auch darum, zumeist junge Leute davon abzuhalten, zu Drogen zu greifen. Diesbezüglich habe sich die Vorgehensweise während der vergangenen zehn, 15 Jahre verändert, sagt Berger. Früher sollten beispielsweise grässliche Bilder und Horrorgeschichten abschrecken. Heute informieren Lehrer und Drogenberater eher über verschiedene Süchte, über Nachteile, aber auch über Vorteile von Drogen; sie wollen das Selbstbewusstsein junger Leute stärken, damit sie lernen, Nein zu sagen.

Heroin spielt keine große Rolle mehr in der Drogenszene, so Berger. Man gehe davon aus, dass in der Region Stuttgart circa 1500 Menschen drücken. „Die sedierende Wirkung passt nicht zur Leistungsgesellschaft“, sagt er. Wer Heroin nimmt, gilt bei der Jugend von heute als Verlierer. Die Jugendlichen trinken vor allem Alkohol, rauchen Hasch, und sie werfen sich Ecstasy-Pillen ein. Ecstasy ist ein Sammelbegriff für psychoaktive Substanzen, die aufputschen.

Sie will ihr Leben bewusst wahrnehmen

Als Manuela Kohn eingestiegen ist, waren die Zeiten andere. Sie ist in Berlin aufgewachsen. Sie sagt, sie habe Christiane F. gekannt, das Mädchen, das wegen seines Buchs „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ aus dem Jahr 1978 bekannt geworden ist. Christiane F. beschreibt, wie sie als Teenager an Heroin geraten und abgerutscht ist. Ihre Geschichte wurde zur Pflichtlektüre an vielen Schulen. Manuela Kohn sagt, in Wahrheit sei es damals in Berlin noch schlimmer gewesen als in dem Buch dargestellt. Wäre sie nicht irgendwann von dort weggegangen, „dann wäre ich längst tot, das war mein Selbsterhaltungstrieb“.

Doch auch in Stuttgart lief nicht alles rund. Vor dreieinhalb Jahren ist ihr Freund an einer Lungenentzündung gestorben, er war ebenfalls ein Drücker, und er hatte Aids. Zurzeit wird Manuela Kohn wieder auf die Probe gestellt. Bis Anfang 2012 hat sie eine zweijährige Haftstrafe abgesessen. Während sie im Gefängnis war, haben ihre Vermieter die Wohnung verkauft. Jetzt soll sie ausziehen, weiß aber nicht, wohin. Sie sitzt auf gepackten Koffern in Heumaden. Der Gerichtsvollzieher war kürzlich da und hat ihr den 11. Juli als letztmöglichen Auszugstermin genannt. Sie hat beim Amt Aufschub beantragt. Das Sozialamt zahlt ihre Miete, doch die Wohnungssuche einer Drogensüchtigen kann dauern.

Manuela Kohn hat sich gewünscht, dass etwas Ruhe einkehrt. Sie will ihr Leben doch bewusst wahrnehmen, Dinge tun, die für andere kaum der Rede wert sind. Zum Beispiel Erdbeeren pflücken. „Ich muss ja erst noch drauf kommen, wie ich meine Freizeit gestalten kann.“ Es sollte endlich mal nicht um alles oder nichts gehen.