Menschenleere Straßen in der nordchinesischen Stadt Tianjin. Nachdem dort mehrere Corona-Neuinfektionen festgestellt wurden, befindet sich die Stadt teilweise in Quarantäne. Foto: dpa/Uncredited

Die neue Variante des Coronavirus fasst Fuß in der Volksrepublik. Virologen zufolge könnte Omikron die radikale, aber bisher erfolgreiche Null-Covid-Strategie des Landes kippen. Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig.

Tianjin/Anyang - Die Hiobsbotschaft kam mit Ansage – und traf die meisten Chinesen dennoch wie ein Schock. Am Samstag testete sich ein Paar aus der Küstenstadt Tianjin positiv auf das Virus, am Sonntagmorgen bestätigte das Staatsfernsehen vorausgegangene Spekulationen: Es handelt sich um die ersten lokalen Omikron-Fälle des Landes. Zuvor hatte China nur einige wenige Omikron-Fälle verzeichnet, die alle auf Auslandsreisen zurückgeführt wurden.

Für China ist dies das denkbar schlimmste Szenario. International führende Virologen haben bereits vor Tagen davor gewarnt, dass die hochinfektiöse Virusmutation die Karten neu mischen wird. Unlängst hat auch der deutsche Virologe Christian Drosten China als seine „größte Sorge“ bezeichnet. Denn wie Drosten glauben die meisten internationalen Wissenschaftler, dass angesichts der hochinfektiösen Mutante eine harte Null-Covid-Strategie, wie sie China verfolgt, zum Scheitern verurteilt ist. Trotz strikter Quarantäne- und Lockdown-Regimes ließe sich die Verbreitung des Virus nicht mehr aufhalten.

Kaum Schutz durch Impfstoffe

Erschwerend kommt hinzu, dass die in China zugelassenen Vakzine von Sinopharm und Sinovac, die abgetötete Corona-Viren enthalten, nach ersten Daten keinen ausreichenden Schutz gegen Omikron liefern. Und aufgrund der extrem niedrigen Infektionszahlen seit Ausbruch der Pandemie ist auch die „natürliche“ Immunität im Reich der Mitte weitaus geringer als in anderen Staaten.

Mittlerweile haben die Behörden weitere Fälle der hochansteckenden Omikron-Variante des Coronavirus entdeckt. Am Montag wurden zwei Omikron-Fälle in der Stadt Anyang in der zentralchinesischen Provinz Henan nachgewiesen, die von den Behörden auf den Infektionsherd im rund 400 Kilometer entfernten Tianjin zurückgeführt wurden. Die Omikron-Fälle versetzen die chinesischen Behörden wenige Wochen vor dem Start der Olympischen Winterspiele in Peking in erhöhte Alarmbereitschaft.

Geschlossene Schulen und Universitäten

Tianjin meldete am Montag 21 neue Ansteckungen, allerdings ist unklar, um welche Variante es sich dabei handelt. Die Stadt kündigte an, alle mehr als fünf Millionen Einwohner testen zu lassen. Aufnahmen des staatlichen Senders CCTV zeigten Menschen, die für einen Test anstanden. Wer Tianjin verlassen wolle, brauche eine offizielle Genehmigung und einen höchsten 48 Stunden alten negativen Test, teilte die Stadtverwaltung mit. Schulen und Universitäten wurden geschlossen und Züge von Tianjin nach Peking gestrichen. An allen großen Ausfallstraßen wurden Kontrollpunkte eingerichtet.

Lesen Sie aus unserem Angebot: Null-Covid-Strategie – China in der Lockdown-Schleife

Schon in den letzten Tagen hatte sich angedeutet, dass China mit seiner radikalen, aber bisher erfolgreichen Strategie an seine Grenzen gelangt. D ie nordwestchinesische Metropole Xian ist die dritte Woche in Folge vollständig abgeriegelt, die 13 Millionen Einwohner dürfen nur zum verpflichtenden Covid-Test auf die Straße. Dabei waren die Zahlen im internationalen Vergleich zu keinem Zeitpunkt besorgniserregend: Seit Beginn des Ausbruchs in Xian haben die Behörden weniger als 2 000 Infektionen registriert. Unter ihnen ist bislang kein einziger an dem Virus verstorben.

Sonderweg beruht auf Gesellschaftsvertrag

Dennoch reagierten die Behörden entschieden. Und die Kollateralschäden der chinesischen Lockdown-Politik haben sich selten so drastisch offenbart. Am Neujahrstag etwa verweigerten die Mitarbeiter des Gaoxin-Spitals im Südwesten der Stadt einer hochschwangeren Frau den Einlass, da ihr negativer Covid-Test um vier Stunden abgelaufen war. Ehe das Resultat des neuen Virustests vorlag, erlitt die Chinesin eine Fehlgeburt.

Weite Teile der Welt schauen mit Befremden auf den radikalen Viruskampf der Volksrepublik, die nach wie vor ganze Städte wegen einer Handvoll Infektionen abriegelt und zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie ihre Grenzen weiterhin geschlossen hält. Doch wie eine Bestandsaufnahme vor Ort zeigt, ist Chinas Sonderweg weitaus rationaler und moralisch komplexer, als er in der medialen Berichterstattung oftmals porträtiert wird. Sie beruht auf einem Gesellschaftsvertrag, der im konfuzianisch geprägten China grundsätzlich starken Rückhalt in der Bevölkerung genießt: Die rigiden Opfer einer Minderheit sichern das Wohlergehen des Kollektivs.

Sterbezahlen sind verschwindend gering

Bislang ging dieser Deal auf: Tatsächlich hat Chinas radikale Strategie etliche Virustote verhindert. Offiziellen Zahlen zufolge sind bislang weniger als 6 000 Menschen an Corona gestorben. Selbst wenn die Dunkelziffer höher liegt, ist sie angesichts einer Gesamtbevölkerung von 1,4 Milliarden noch immer verschwindend gering. Für die absolute Mehrheit der Chinesen spielt das Infektionsrisiko seit über anderthalb Jahren keine Rolle mehr im Alltag.

Ob die jüngsten Omikron-Infektionen einen Wendepunkt im Kampf gegen das Virus darstellen, werden die nächsten Wochen zeigen. „Gott sei Dank sind die Fälle rund 30 Kilometer von meinem Zuhause entfernt“, sagt ein Bewohner von Tianjin. „Aber trotzdem stocke ich besser meine Essensvorräte auf. Der Lockdown selbst ist mittlerweile weitaus furchterregender als das Virus selbst“.