Ein bisschen wie im orientalischen Basar: die Stuttgarter Schulstraße auf einer Ansichtspostkarte Ende der siebziger Jahre Foto: Bahnhofsbuchhandlung Konrad Wittwer/ H. Schreiber

Die Schulstraße in Stuttgart galt Anfang der fünfziger Jahre als vorbildliches Fußgängerzonen-Modell – und war, so wie die autofreien Ladenmeilen in vielen deutschen Klein- und Großstädten, ein beliebtes Postkartenmotiv. Was lässt sich aus Ansichtskarten über den Wandel der Städte in Ost und West ablesen?

Stuttgart - Dicht an dicht flanieren die Passanten durch die schmale Gasse, mustern Schaufensterauslagen, stehen am Nordsee-Imbiss Schlange. Über ihren Köpfen formen Geranienkästen auf beiden Straßenseiten zwei aufeinander zulaufende Linien. Der blühende Blumenschmuck ziert das Terrassengeschoss der nur 130 Meter langen Stuttgarter Schulstraße. Das Einkaufserlebnis auf zwei Ebenen zu inszenieren – diese pfiffige Idee hat die Geschäftsstraße Anfang der fünfziger Jahre zu einem herausragenden Beispiel für eine gelungene Fußgängerzonengestaltung – und damit zu einem beliebten Ansichtskartenmotiv gemacht.

Unten drängeln und kaufen mit Basar-Feeling, oben entspannen bei Kaffee und Kuchen: Eine Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigt das doppelte Gesicht der Schulstraße kurz nach deren Nachkriegs-Wiederaufbau zur allein dem Fußgänger vorbehaltenen Ladenmeile; zwei weitere Farbpostkarten dokumentieren die ungetrübte Wohlstandsurbanität der Siebziger. Stuttgarter Leser des Bandes „Achtung vor dem Blumenkübel!“, der „die Fußgängerzone als Element des Städtebaus“ anhand von Ansichtspostkarten in Ost- und Westdeutschland von der Nachkriegszeit bis zur Wende analysiert, werden auch die zwei weiteren Motive aus der Landeshauptstadt mit Interesse studieren: den anmutigen Pusteblumebrunnen, den der Architekt Günter Behnisch 1977 nach einem Entwurf Bob Woodwards für Sydney in der unteren Königsstraße umsetzte, und den in Schwarz-Weiß-Optik modern-heiter anmutenden Kleinen Schlossplatz mit seiner topografischen Brunnenanlage.

Ein alltäglicher Bildfundus

Mit dem Band lässt sich aber nicht nur in Stuttgart-Nostalgie schwelgen, sondern anhand des Massenmediums Postkarte tief in die Entwicklung der deutschen Citys von 1949 bis 1989 eintauchen, in West wie in Ost. Der Autor Ulrich Brinkmann spannt dem Bogen vom Wiederaufbau nach dem Krieg in den Fünfzigern über die Umwandlung der Innenstädte in Geschäftszentren in den Sechzigern bis zum gesteigerten Interesse an Historie und Denkmalschutz, das ab Mitte der siebziger Jahre in den Stadtkernen offenbar wurde.

Warum die Postkarte? Weil der passionierte Sammler Brinkmann davon eine riesige Sammlung besitzt. Und weil sie einen „alltäglichen Bildfundus“ bildeten, so argumentiert der Architektur-Fachredakteur, der nicht interessengelenkt und polemisch sei, wie viele andere Darstellungen des neuen Stadtideals, das sich nach dem Krieg durchsetzte: die aufgelockerte und autogerechte Stadt.

Rotterdams Lijnbaan als Role Model

Der Band ist der Auftakt einer Trilogie; Brinkmann hat sich vorgenommen, alle drei Raumtypen der entsprechend der 1931 verfassten Charta von Athen nach Funktionen gegliederten Stadt zu untersuchen: die Fußgängerzone, die Wohnsiedlung am Stadtrand und die Ausfallstraße als beide Orte verbindende Infrastruktur. Diese spätmoderne Stadt galt einst als Fortschrittszeugnis, mit dem man sich als Ansichtskarten-Absender sehr wohl brüsten konnte – die Diskrepanz zur heutigen Wahrnehmung der aus dieser Auseinanderdivision entstandenen Problematiken der Städte könnte größer nicht sein.

Brinkmann beginnt seinen stadthistorischen Flanier- und Shopping-Meilen-Überblick mit Paderborn, der Stadt, in der er aufgewachsen ist, wendet sich erst dann den großen Vorbildern zu: die Lijnbaan in Rotterdam, „nicht weniger als das Role Model dieses Raumtyps“, damals von der Fachwelt hochgelobt, gefolgt von weiteren Maßstäbe setzenden Beispielen in Kassel, Kiel, Magdeburg und eben Stuttgart.

Kaffees, Pilsstuben und Pflanztröge

Um das Typische dieses Stadtraums, der nach dem Krieg landauf, landab in den Städten Einzug hielt, herauszufiltern, untersucht der Autor akribisch sämtliche Ausstattungsmerkmale. Er widmet dem Pflaster, Pflanzschalen-, trögen und Hochbeeten, den Kleinarchitekturen wie Pavillons und Kioske sowie auch der gastronomischen Bespielung („Kaffee und Pils“) jeweils eigene Kapitel. So entsteht en passant eine charmante, aus ungewöhnlichem Blickwinkel angelegte Dokumentation des Wandels, den das Design des öffentlichen Raums wie auch das Konsumverhalten der Deutschen über die Jahrzehnte vollzogen hat.

Die Analyse endet mit dem Wendejahr 1989, gleichwohl ist der Blick zukunftsgerichtet. Schließlich müssen sich Planer heute mit den Konsequenzen des damals so gepriesenen Stadtmodells herumschlagen, welches „das Ganze, was das Leben in der Stadt ausmacht“, in Räume zerfallen ließ, die nur einem Zweck, einer Gruppe dienten und damit nicht elastisch für wandelnde Ansprüche seien, wie Brinkmann zu Recht moniert. So ist auch der Buchtitel „Achtung vor dem Blumenkübel!“ zu verstehen: als Warnung vor den Risiken, die lauern, wenn man das komplexe Stadtgebilde auf eine technische Innovation herunterkürzt – damals das Auto, heute die Digitalisierung.

Kampf gegen Leerstand

Die goldene Ära der „Fuzo“ ist längst vorbei, innerstädtische Handelszonen kämpfen gegen Konkurrenz im Internet und am Stadtrand, gegen Verramschung, Filialisierung und Leerstand. Auch die Stuttgarter Schulstraße ist davor nicht gefeit. Die Corona-Pandemie setzt den schwächelnden Citys zusätzlich zu. Ansichtspostkarten von Fußgängerzonen? An den Kiosken aus gutem Grund kaum noch zu finden.

Was man nach der Lektüre jedoch mindestens ebenso betrauert wie die verlorene Vitalität der Innenstädte ist der Niedergang der Postkarte. 1954 wurden in Deutschland 920 Millionen Exemplare zugestellt, 2016 waren es 250 Millionen. Immerhin, ausgestorben ist sie noch nicht ganz. Jetzt ist Urlaubszeit: Gelegenheit, aus der Feriendestination einen Postkartengruß an die Lieben daheim zu verschicken.

Ulrich Brinkmann: Achtung vor dem Blumenkübel! Die Fußgängerzone als Element des Städtebaus. Ansichtspostkarten in Ost- und Westdeutschland 1949 bis 1989. DOM publishers, Berlin. 248 Seiten, 28 Euro.