Den Ausdruck von Anohnis Gesicht kann man das ganze Hamburger Konzert über nur erahnen. Foto: AFP

Es soll 2017 ihr einziges Deutschland-Konzert bleiben, vielleicht sogar ihr einziges überhaupt: Anohni ist mit dem Kammerensemble yMusic in der Elbphilharmonie aufgetreten. Sie ist zu den den großen Emotionen, dem starken, unverkennbaren Vibrato, den unerwartet gebrochenen und intensiven Melodien zurückgekehrt.

Hamburg - Sehr lange ist noch Licht im großen, restlos ausverkauften Saal der Elbphilharmonie, am Sonntagabend. Das Konzert, das Anohni mit dem New Yorker Kammerensemble yMusic in Hamburg gibt, ist ein Event von ausgeklügelter Exklusivität. Ganz zu Beginn, als nur ungeduldiges Hüsteln den Raumklang des Saales erprobt, erfährt das Publikum ausführlich von der Einzigartigkeit des Abends: Nur in der Elbphilharmonie tritt Anohni mit yMusic auf; es soll 2017 ihr einziges Konzert in Deutschland, vielleicht auch weltweit bleiben. Als drei Tage zuvor John Zorn denselben Saal bespielte und das Festival „New York Stories“ eröffnete, wurde das Publikum höflich gebeten, von Ton- und Bildaufnahmen abzusehen, und hielt sich daran. Nun, bei Anohni, steht eine Drohung im Raum: Wird ein Smartphone nur gesichtet, kann abgebrochen werden. Ein Risiko, das keiner eingehen will.

Schließlich treten die Musiker auf, ganz in Schwarz. Halbdunkel ist eingekehrt auf der Bühne; Spots erhellen ihre Positionen. Ganz zur Linken Rob Moose, Violinist und Arrangeur. Hinter ihm Gael Rakotondrabe am Flügel. CJ Camerieri an der Trompete, Gabriel Cabezas am Cello; Alex Sopp, Flöte, Hideaki Aimori, Klarinette, und Nadia Sirote, Viola. Sie bilden zwei Schenkel eines Dreiecks, dessen Spitze vorerst leer bleibt. Leise setzt das Spiel ein – vorsichtig angerührte Saiten, ein Flötenhauch; ein sich langsam zusammenfügendes, dunkles Klangbild. Anohnis Konzert mit yMusic wird sich entwickeln als Spiel von Licht und Schatten. Hell wird die Trompete sich übers unruhige Flirren des Ensembles erheben, mit klarem, vollem Klang, werden Melodien von ergreifender Schönheit sich bilden und dramatisch wie Gebete emporsteigen. Aber das Halbdunkel wird auch zurückkehren.

Zurück zu den Wurzeln im Kammerpop

Im Halbdunkel nimmt nun Anohni Platz, besetzt die Spitze des Dreiecks, lauscht erst lange dem Spiel ihrer Musiker. Anohni wurde bekannt unter ihrem bürgerlichen Namen Antony Hegarty; das erste Album von Antony and the Johnsonserschien 2000. 2016, mit Anohnis erstem Solo-Album, kam der Wendepunkt: Hegarty, transsexuell, präsentiert sich seither ausschließlich als Frau; aus dem ausgefeilten Kammerpop von Antony and the Johnsons wurde geradliniger Elektro, aus Innerlichkeit Protest, Politik. In der Elbphilharmonie wird man aus „Hopelessness“, jenem Solo-Album, nur zwei Stücke hören – „Drop Me Bomb“ und „4 Degrees“, die beiden Opener. „You’re My Sister“ wird als Zugabe bejubelt, zeigt eine Anohni, die ganz zu Antonys Wurzeln zurückkehrt.

Auch im Konzert selbst ist Anohni wieder dort angelangt, bei den Emotionen, dem starken, unverkennbaren Vibrato, den unerwartet gebrochenen und doch um so vieles intensiveren Melodien. Aber sie zieht sich oft auch zurück, überlässt die Musik ganz ihren Begleitern, lauscht. Herzstück des Konzertes ist eine lange Instrumentalkomposition des Ensembles, bei der Anohni langsam wie sterbend zu Boden sinkt, um sich dann wieder zu erheben, zur Stimme, zum Lied zurückzufinden.

Wie ein seltsamer Engel

Anohni erscheint in einem ausladenden weißen Kleid; es könnte ein Brautkleid sein. Auf ihrer Brust ein Symbol, Ornament, das kaum zu erkennen ist, im Licht der Scheinwerfer hell aufblitzt. Sie selbst bleibt fast immer im Dunkel; den Ausdruck ihres Gesichts kann man nur erahnen. Sie steht da wie ein übergroßer, seltsamer Engel, massig, überragt ihre Begleitmusiker. Singt sie, flattern ihre Hände, scheinen nach dem Klang zu greifen, mit ihm zu zittern, zu kämpfen: Ein Pathos, das die Grenze zum Kitsch eigentlich überschreitet – und doch ergreift es, überwältigt, mit seiner Fremdartigkeit.

Anohni besitzt eine der großen, eigenwilligen Popstimmen des 21. Jahrhunderts. Auf ihre Version des Grateful-Dead-Songs „Black Peter“ wartet man vergebens, wird aber belohnt mit einem anderen erstaunlichen Stück: Als Anohni Leonard Cohens „The Guests“ anstimmt, tritt sie schließlich aus dem Schatten hervor, steht vorn im Licht. Es ist ein großer Moment, in dem sich dieser Abend zu erfüllen scheint. Der Applaus will nicht enden. Noch einmal dauert es, bis Anohni zurückkehrt, ihrem Publikum einen Kuss zuwirft und verschwindet.