Henning May von Annenmaykantereit hat eine bemerkenswerte Stimme. Und er spielt die für Straßenmusiker unentbehrliche Melodica. Weitere Bilder vom Konzert in Stuttgart zeigt die folgende Fotostrecke. Foto: Jan Georg Plavec

Im August haben Annenmaykantereit in der Rosenau gespielt – am Samstagabend in den ausverkauften Wagenhallen. Dort schmachten sie dem freien Leben hinterher. Und haben eine wirklich frohe Botschaft.

Stuttgart - An diesem Samstagabend möchte man sich mindestens dreiteilen, das muss der Konzertkritik zu Annenmaykantereit vorangestellt werden. Denn mit Woods of Birnam (die mit dem „Honig im Kopf“-Soundtrack) im Schocken und Two Gallants in der Manufaktur sind für den Popfreund extrem hochwertige, zumal schön unterschiedliche Alternativen zu einem Abend mit Annenmaykantereit in den Wagenhallen geboten.

Argumentation: „Honig im Kopf“ nicht geschaut, Woods of Birnam gefallen auch den Get-Well-Soon-Leuten und werden eh noch groß. Two Gallants haben vor zweieinhalb Jahren auch schon in der Manufaktur gespielt und werden womöglich nicht mehr größer. Annenmaykantereit hingegen waren bei ihrem letzten Stuttgart-Besuch im Mai 2014 in der Rosenau; das Konzert vom Samstag musste vom Keller Klub in die mehr als doppelt so großen Wagenhallen hochverlegt werden und auch die sind am Ende ausverkauft. Dem Vorwurf, jedem Hype hinterherzurennen, haben wir nach dieser Erklärung natürlich nichts mehr entgegenzusetzen.

Wurscht, also auf zum um den Bassisten Malte Huck erweiterten Trio. Die Kölner waren schon Support für die Beatsteaks und Clueso, da haben sie offenbar einen guten Job gemacht, denn das Publikum ist schön durchmischt – zwischen Oberstufe und eigenheimorientierten Pärchen ist alles dabei, was gern „Barfuß am Klavier“ sitzt und der Zeile „Ich möcht’ gern mit dir in ner Altbauwohnung wohnen“ zustimmen können.

Der erste Moment ist der beste

Man kann sich ja durch die bisher erschienenen Annenmaykantereit-Aufnahmen hören, kann die Videos von der Straßenmusik oder zur aktuellen Single ansehen. Trotzdem ist der beste Moment dieses Konzerts der allererste. Ja, Henning May hat wirklich so eine Stimme, nein, sie ist noch viel krasser. Livemoment, dafür zahlt man, schon klar. Aber ja, die Entschiedenheit, mit der May noch die letzten drei Prozent Kratzpulli aus seinem Organ herausdrückt, sticht wirklich hervor. Zumal May, Anfang zwanzig, keine Miene verzieht, die Arme verschränkt und so tut, als sei so eine Stimme das Normalste der Welt. Während sein jungenhafter Körper und das etwas zu weit geschnittene Tocotronic-Shirt einen tollen Kontrast zu seiner Stimme abgeben.

Der Frontmann ist also das Ereignis an dieser Band, auch wenn Mays Tonspektrum überschaubar bleibt. Die Songtexte buchstabieren den zeitgenössischen jugendlichen Existenzialismus aus. Annenmaykantereit formulieren Gegenpositionen zu der ökonomisierten Welt, die Leute in ihrem Alter typischerweise in Form von G8, durchgeplantem Studium und Praktika statt Semesterferien entgegentritt. Die Gegenthese dazu ist ein „Man wird ja noch träumen dürfen“, eben vom Altbau und vom Klimpern am Klavier. Ihr aktuelles Album hat die Band live und unter freiem Himmel eingespielt, auch so was Unkonventionelles.

Ein ins riesenhafte mutierter Straßengig

Das Wort authentisch wurde vom Marketingsprech leider ein bisschen zu oft durchgenommen, aber genau das ist es, was Annenmaykantereit sind und sein wollen. Was dem Rapper die Street Credibility ist, das ist dem Popmusiker die Straßenmusikvergangenheit. Das läuft jedem Hörer sofort rein, siehe auch Kids of Adelaide, vor allem aber ist die Straße eine gute Schule, den Leuten das zu geben was sie wollen.

Genau das tun Annenmaykantereit: Ihr Stuttgart-Konzert ist eine Art ins Riesenhafte mutierter Straßengig. Die Rhythmusgruppe aus dem Bassisten Malte Huck und dem mit akustisch klingenderen Sticks spielenden Schlagzeuger Severin Kantereit versteht sich perfekt auf leicht verständliche, nach vorne dringende Songuntermalung. Wenn es passt, spielt der Gitarrist Christopher Annen dazu Mundharmonika. Für die Kanten in den ansonsten zupackend-melodischen Songs ist Henning Mays Kratzstimme zuständig. Die Melodica, also diese seltsame und für Straßengigs unentbehrliche Mischung aus Blas- und Tasteninstrument, spielt May zwischendurch übrigens auch.

Verschwende deine Jugend

Das alles ergibt ein eher kurzes, vor allem kurzweiliges Konzert. Von dem die Studentenleben-Single „21, 22, 23“ in Erinnerung bleibt, in dem das Verschwende-deine-Jugend-Zitat nonchalant in sein Gegenteil verkehrt wird. Wie es aus ihrer Sicht richtig geht, machen Annenmaykantereit mit einem jeglicher Zwischentöne beraubten Bobby-Hebb-Cover vor (ein Beispiel von der Tour gibt es hier): „Sunny“ wird zur halbakustischen Tanznummer für die restalternative Altbau-Jugend. Und plötzlich wirkt Cro wie ein der Tradition verpflichteter Soul Brother.

Das alles klingt böser als es gemeint ist: Man trifft sich bei Annenmaykantereit in der Mitte der Straße; es ist eine freundliche Straße, in der niemand dem anderen etwas Böses will. Sondern nur mal einen Abend lang Zerstreuung in einem Leben, das sich auch für Studenten in der Altbau-WG oder eigenheimorientierte Pärchen gern mal schwerer anfühlt als es eigentlich ist. Solange wir mit Annenmaykantereit dem jungen, freien Leben hinterherschmachten können, geht es uns gut. Das ist die wirklich schöne Botschaft dieses Konzerts.

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