Wirtschaftsminister Altmaier gerät bei Anne Will unter Druck. Warum will er keine Testpflicht für Betriebe? Und nicht nur die FDP, auch eine Grüne zweifelt an Ausgangssperren: „Draußen ist es sicherer als drinnen.“
Stuttgart - Leise Zweifel sind aufgekommen auch unter den Hardliner bei den fünf Studiogästen von Anne Will in ihrer ARD-Talkrunde am Sonntagabend, ob jetzt pauschale nächtliche Ausgangssperren wirklich der Weisheit letzter Schluss seien. Soll man etwa einem geimpften, älteren Ehepaar am Abend den Spaziergang verbieten, fragte FDP-Chef Christian Lindner und zumindest in dem Punkt kam keine Widerrede. Die Frage des Abends aber war, ob bei den neuen Maßnahmen – die Bundestag und Bundesrat nächste Woche bundesweit verbindlich per Gesetz auf den Weg bringen wollen – nicht mit zweierlei Maß gemessen werde. Streng sei man bei den Schulen und „alle möglichen Regeln“ werden für den privaten Bereich erdacht, so Anne Will: „Was aber ist eigentlich mit den Büros?“
Testpflicht für Schüler – aber nicht für Arbeitnehmer
Die Wirtschaft werde wieder mal geschont, meinte die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt: „Das geplante Gesetz ist zu lasch bei der Arbeitswelt, da wird nichts angepackt.“ Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), sekundierte und stellte fest, dass in Berlin „die Straßen und der ÖPNV voll“ seien: Ein Beleg dafür, dass die Aufforderung zur Arbeit im Homeoffice – anders als im Frühjahr 2020 – nicht massenhaft befolgt wird. Und die Journalistin Melanie Amann („Spiegel“) fragte, wieso es eigentlich für Schüler eine Testpflicht zweimal in der Woche gebe, nicht aber für Arbeitnehmer?
Auch die Schulen sind Pandemietreiber
Wie sich dann Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und der FDP-Vorsitzende Christian Lindner wanden in der Beantwortung dieser Frage, dass war schon bemerkenswert. Beide konnten sich natürlich stützten auf eine Aussage des Kölner Intensivmediziners Michael Hallek, wonach die Ostertage mit der Schließung von Schulen und Betrieben „zum Glück“ etwas gebracht haben, nämlich, dass die Inzidenzzahlen „nicht exponentiell“ ansteigen. Und sie konnten referieren auf Halleks Bemerkung, dass Schulen „Pandemietreiber“ seien, und immer wenn sie geschlossen seien, sänken die Inzidenzen. Da konnte dann Minister Altmaier schon enthüllen, dass er eigentlich schon immer für Schulschließungen ab der Inzidenz von 100 gewesen sei. Im übrigen gebe es eine „große Bereitschaft“ der Arbeitgeber zum Testen und in seinem Ministerium seien 75 Prozent der Mitarbeiter im Homeoffice. Was aber die allgemeine Wirtschaft anbelange, da sei es schon so, „dass viele Beschäftigte zuhause über beengte Verhältnisse“ klagten und im übrigen stünde es dem Bundestag nächste Woche frei, das Gesetz in dieser Hinsicht nachzubessern.
Eine bissige Bemerkung trifft Altmaier
Letztere Bemerkung trug Altmaier dann einen bissigen Kommentar von Melanie Amann ein: „Sie wollen also, dass der Bundestag Ihr Problem löst?“ Amann trat in der Sendung ohnehin als aggressivste Kritikerin der Bundesregierung auf und mokierte sich über eine Aufforderung von Altmaier an den Mediziner Hallek, er möge doch mal Vorschläge für Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung machen: „Sie sitzen hier als Mitglied der Bundesregierung und erwarten Vorschläge? Von Ihnen aber kommt kein Signal, wie Sie uns durch die Pandemie führen wollen.“
Was die Frage der Schonung der Unternehmen anbelangt, da trat auch FDP-Chef Lindner – so überzeugend er sich in Fragen des Gesetzgebungsverfahrens und der Freiheitsrechte auch äußerte – relativ kleinlaut auf. Nein, man solle nicht immer mit dem Finger auf die Wirtschaft zeigen, eine Testpflicht für Betriebe „bringt nicht viel“ und man brauche sie nicht, im übrigen seien da rechtliche Fragen ungelöst ebenso wie die Kostenübernahme. Auffällig an Lindner war immerhin, dass er in mehreren Punkten den Kurs von „Maß und Mitte“ des SPD-Bürgermeisters Müller aus Berlin auch wegen seiner Zweifel an den Ausgangssperren unterstützte und dessen Entscheidung zu Schulöffnungen von Montag an als „schwierig und mutig“ würdigte.
Schulöffnung? Berlins Bürgermeister zweifelt, ob er es durchhält
In der Tat musste sich Müller da vor Moderatorin Anne Will rechtfertigen, dass er bei einer Inzidenz von um die 150 partiell die Schulen öffnen und Wechselunterricht erlauben will. Müller schilderte ziemlich eindrücklich die Lage, da seien Siebt-, Acht- und Neuntklässler, die säßen seit vier Monaten zuhause im Fernunterricht, und man habe in Berlin nun mal Stadtteile mit 40 000 Einwohnern wie die Gropius-Stadt, wo keiner einen Garten oder eine Veranda habe, und da wirke ein Ausgangssperre massiv. Er plädiere für einen Kurs „mit Augenmaß“ und einer Berücksichtigung der Erfahrungen von 2020, wonach das Infektionsgeschehen drinnen größer sei als draußen. Was die Schulen anbelange, „da weiß ich nicht, ob wir das durchhalten“, sagte Müller. Vielleicht seien die in einer Woche auch wieder zu.
Es geht mit zu hohem Tempo in die Kurve
Was die Ausgangssperren betrifft, da konnte sich auch die Grüne Göring-Eckardt – die vehement eine „Notbremse“ verlangte, die auch bremst – eine Feinjustierung der Gesetzesnovelle vorstellen: „Draußen ist es sicherer als drinnen“, sagte Göring-Eckardt. Der stärkste Mahner in der Sendung aber, der Mediziner Hallek, Direktor der Inneren Medizin an der Universitätsklinik Köln, erteilte allen optimistischen Ansätzen eine Absage: Die Inzidenz von 100 als Schwellenwert sei angesichts der Virusvariante B117 „viel zu hoch“. Damit gehe man mit zu hohem Tempo in die Kurve, und was die Ausgangssperren anbelange, da solle man mal nach Großbritannien schauen, wo Premier Boris Johnson es damit geschafft habe, den Virus „in die Knie zu zwingen“ und auf eine Inzidenz um die 30 zu kommen. Wäre man in Deutschland jetzt „konsequent“ für ein bis zwei Monate, dann könnte man „einen guten Sommer“ erwarten.
Ein Medizinprofessor zweifelt an der Demokratie
Die Politiker sollten mal „den Wahlkampf beiseite schieben“, so der Professor: „Wir haben das Gefühl, dass unsere Demokratie nicht in der Lage ist, mit der Pandemie fertig zu werden.“ Alle demokratischen Parteien müssten nun dafür eintreten, verlorenes Vertrauen wieder herzustellen. Statt „Klein-Klein“ benötige man eine Strategie, ein „Gesamtkunstwerk“ zur Pandemiebekämpfung. Zwei Drittel der Krankenhäuser mit Intensivstationen in Deutschland seien „nicht mehr aufnahmefähig“, so Hallek. In seiner Klinik habe er 50 bis 60 Corona-Intensivpatienten, „von denen viele um ihr Leben kämpfen“. Sieben OP-Säle seien bereits geschlossen, weil man planbare OPs verschiebe: „Wir haben längst eine weiche Triage.“