Bei Anne Will ging es diesmal etwas länger um Bürgerrechte in Corona-Zeiten. Foto: dpa/Christoph Soeder

Wieder einmal traten bei Anne Will die Befürworter einer Lockerung und ihre Gegner an: Wirklich spannend war aber, wie die Juristin Leutheusser-Schnarrenberger den Begriff der neuen Normalität zerpflückte.

Stuttgart - Die Lager waren wieder einmal gleichmäßig verteilt bei dieser in Folge sechsten Talkrunde von Anne Will am Sonntagabend zum Thema Coronavirus. Auf der einen Seite die Befürworter einer Lockerung, auf der anderen jene, die zur Vorsicht mahnen und irgendwo in der Mitte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), von dem vor allem eine Aussage haften blieb: Wie er in einer langen Schlange mit gebührendem Mindestabstand vor einer Konditorei in Berlin gestanden sei, dann aber die Geduld verlor, beidrehte und sich mit frischem Obst tröstete – die Corona-Zeit scheint auch gesunde Ernährung zu befördern.

Man müsse das Virus „austrocknen“, sagt ein Wissenschaftler

Mit Spannung war der Auftritt der ehemaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), derzeit Richterin am bayerischen Verfassungsgericht, erwartet worden, denn es scheint wieder die Zeit, um über Bürgerrechte sprechen zu dürfen. Und um es vorwegzunehmen: ihr Auftritt war kurz, aber hatte es in sich. Zuvor aber bauten sich die Lager auf. Auf der Seite der „Vorsichtigen“ war Michael Meyer-Hermann, ein cooler Typ in schwarzer Lederjacke und mit Zopf, der die Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig leitet. Meyer-Hermann konnte recht überzeugend darlegen, warum er die am Mittwoch von Bund und Ländern beschlossenen Lockerungen für falsch hält, denn dass die sogenannte Reproduktionsrate des Virus auf 0,7 Prozent gesunken sei, könnte auch am Effekt der Osterfeiertage – wo wenig getestet wurde – liegen. „Wenn wir die Reproduktionsrate bei 0,7 oder 0,8 halten wollen, werden wir über einen sehr langen Zeitraum mit Beschränkungen leben müssen, um unser Gesundheitssystem stabil zu halten.“ Würde man eine Lockerung im großem Stil einleiten, dann bekäme man eine „explosionsartige Entwicklung“ des Coronavirus.

Der Wissenschaftler schlug einen ganz anderen Weg vor: „Wir müssen versuchen, das Virus auszutrocknen.“ Mit radikalen Maßnahmen müsse man die Neuinfektionen stark herunterfahren, die Reproduktionsrate müsse auf 0,2 oder 0,3. Das müsse man drei Wochen lang durchhalten, und dann könne man rascher wieder „zur alten Normalität“ und die Wirtschaft wieder öffnen – allerdings ähnlich wie in Südkorea mit konsequenten Schutzmaßnahmen und klaren Vorgaben, mit Tracking des Virus und vielen Tests. „Das Virus muss beherrschbar werden.“ Das klang recht plausibel.

Wenn die Hausaufgaben am Gartenzaun hängen

Auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) meinte, dass jene Wirtschaftsvertreter, die jetzt nach weiteren Lockerungen rufen, „die Dramatik der Lage verkennen“, denn es gehe schließlich „um das höchste Gut“, die Gesundheit und das Leben der Menschen. Sachsen hat als erstes Bundesland eine Maskenpflicht eingeführt, in der Kanzlerrunde mit den Länderchefs muss Kretschmer offenbar zu den Bremsern gezählt haben: „Wir sind da an die Grenzen dessen gegangen, was verantwortbar ist.“ Kretschmer bezeichnete die leicht verbesserte Lage in Deutschland als „Erfolge unserer Anstrengungen“, als er dann aber schilderte, wie schön-harmonisch es doch in seinem Freistaat sei, wo eine Lehrerin einem Kind die Hausaufgaben an den Gartenzaun hängte, da platzte dem Wirtschaftsvertreter in der Runde der Kragen.

Der Wirtschaftsvertreter beklagt den „paternalistischen“ Staat

Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln, hielt der Politik flächenhaftes Versagen bei der Öffnung der Wirtschaft und der Schulen vor: Es fehlten Termine für ein Öffnung, denn darauf müssten sich alle vorbereiten. „Wir sind nicht mehr in der Anfangsphase der Pandemie, aber der Staat fährt hier immer noch einen paternalistischen Ansatz.“ Man müsse der Wirtschaft zumindest „Erwartungsmöglichkeiten“ für eine schrittweise Öffnung bis zum Sommer geben, stattdessen „lässt man ganze Bereiche außen vor“ und bedrohe damit massenhaft Existenzen. „Unsere Städte werden nach dieser Krise anders aussehen.“ Vor allem, dass die Schäden für die Kinder – auf die schon das Kinderhilfswerk hingewiesen habe – ausgeblendet werden, erzürnte Hüther. „Wenn Schule nicht über Präsenz läuft, werden wir massive Probleme bekommen. Nicht nur für die Bildungsgerechtigkeit.“ Unverständlich ist für den Wirtschaftsmann, warum die Grundschulen nicht öffnen, ähnlich wie in Dänemark mit zeitversetztem Lernen, halben Klassengrößen, radikal beschnitten Lernstoff auf die wichtigsten Fächer. Im übrigen sieht Hüther eine gewisse Entspannung der medizinischen Lage: die Auslastung der Intensivbetten liege bei 60 Prozent, in Nordrhein-Westfalen würden mehr Corona-Patienten entlassen als aufgenommen.

Die Bürger brauchen Perspektiven – für ihre Kinder und für die Wirtschaft

Deutschland verharrt aber noch im Ausnahmezustand. Auch die Liberale Leutheusser-Schnarrenberger wollte das gar nicht in Frage stellen oder anfechten, sie aber wehrte sich entschieden gegen den von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) geprägten Begriff der „neuen Normalität“: Es gehe nicht an, dass mit diesem Begriff der Ausnahmezustand „als ein Normalzustand“ beschrieben werde und auf diese Weise die Freiheitsbeschränkungen rechtfertigt werden. „Die Bürger verhalten sich sehr vernünftig und diszipliniert. Aber sie brauchen Perspektiven für ihre Kinder und auch für die Wirtschaft, wie es jetzt weitergeht.“ Man könne nicht eine Ausnahmesituation mit all ihren Einschnitten in die Grundrechte einfach „so lassen“.

Die Gerichte hätten das längst erkannt in ihren jüngsten Urteilen, „sie wollen konkrete Begründungen für die Eingriffe ins Verfassungsrecht und da kann man nicht einfach mit Zahlen wie 0,7 oder 0,8 kommen“. Auch in den nächsten Wochen, so glaubt Leutheusser-Schnarrenberger, werde es noch einschlägige Gerichtsurteile geben, die den Staat bremsen bei seinen Einschnitten ins Recht der freien Berufsausübung, der Freizügigkeit, der Versammlungs- und Religionsfreiheit. So hätten Verfassungsrichter schon gesagt, dass es ein generelles Versammlungsverbot nicht geben könne, eins mit Auflagen aber schon.

Zumindest Peter Altmaier wies darauf hin, dass der Begriff der „neuen Normalität“ nicht von ihm und auch nicht offiziell von der Bundesregierung verwendet werde. Auf die von CSU-Chef Markus Söder stammende und vom Sachsen Kretschmer übernommene Idee, die Mehrwertsteuer in der Gastronomie von 19 auf sieben Prozent zu senken, um die Branche zu entlasten, ging der Wirtschaftsminister übrigens nicht konkret ein. Man prüfe, wolle aber erst einmal die Gesamtschau der Hilfen für die Wirtschaft betrachten. Auch Altmaier ist ungeduldig: „Wir wollen, dass es mit der Wirtschaft wieder losgeht. Aber das Schlimmste wäre, wenn wir nach sieben oder 14 Tagen einen Rückfall bei den Neuinfektionen bekommen.“