Will den Briten mehr Zeit für einen Brexit-Deal geben: Ex-Außenminister Sigmar Gabriel im Gespräch mit Anne Will Foto: NDR/Wolfgang Borrs

Warum ist Europas Strahlkraft so gesunken? Und was hat Brüssel im Umgang mit den Briten falsch gemacht? In der Talkshow von Anne Will gab es am Sonntagabend viel Selbstkritisches zu hören.

Berlin - Mehr als eine halbe Million Briten haben am Samstag gegen den Brexit demonstriert. Kippt da was auf der Insel? Berappelt sich die EU nochmals? Wird gar am Ende alles gut? Nein, Entwarnung wollte am Sonntagabend keiner von Anne Wills Gesprächspartnern geben. Mögen in London auch noch so viele Europafans auf die Straße gehen. „Der Marsch war beeindruckend, aber er wird ungehört verhallen, solange kein politischer Wille da ist“, glaubt Anette Dittert, die lange für die ARD aus Warschau berichtet hat und nun in London lebt. Auch der britische Botschafter in Berlin, Sir Sebastian Wood, winkte ab: Die EU müsse das erste Referendum respektieren und einen „fairen Ausgleich“ zwischen Rechten und Pflichten garantieren. Nochmals abstimmen? Wood schüttelte den Kopf.

Was sollte das auch für einen Sinn ergeben, wenn das Ergebnis wieder knapp würde?, gab Ex-Außenminister Sigmar Gabriel zu bedenken: „Sollen wir es dann ein Vierteljahr später wieder machen?“ Der SPD-Mann schlug vielmehr vor, dass die Briten über das Ergebnis des Ausstiegs-Deals abstimmen. Und wenn es keinen Deal gibt, müsse Brüssel den Briten eben mehr Zeit geben. Nur eines will Gabriel ihnen keinesfalls durchgehen lassen: dass sie den freien Warenverkehr behalten, bei Menschen und Dienstleistungen aber die Schlagbäume herunterlassen. „Die Vorteile genießen, aber die Pflichten negieren, das wollen derzeit doch alle Nationalisten in Europa“, warnte Gabriel. Damit würde man zum Beispiel dem populistischen italienischen Innenminister Matteo Salvini alle Forderungen auf dem Silbertablett servieren.

„Nur noch Albanien will in die EU“

Dass die britische Premierministerin Theresa May gar nicht so richtig weiß, was sie eigentlich will, wie Dittert vermutet, durfte ihr Botschafter natürlich so nicht stehen lassen. Eines von Mays zentralen Zielen sei zum Beispiel, eine neue Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zu verhindern, erklärte Sir Wood. Denn so könnten die alten Konflikte wieder aufflammen. Außerdem sehe London das als Präzedenzfall für Schottland, das sich ebenfalls abspalten könnte. „Jetzt sind wir in der letzten Phase der Verhandlungen, jetzt müssen beide Seiten Kompromissbereitschaft zeigen“, sagte Wood. Und wenn der Deal erst mal ausgehandelt sei, dann werde es im Parlament auch eine Mehrheit dafür geben: „Weil die Abgeordneten wissen, dass es sonst ein Chaos gibt.“

Also doch alles gut? Von wegen! Dirk Schümer, der in Italien lebende Europa-Korrespondent der „Welt“, schnitt mehrfach die grundsätzliche Frage an, was Europa denn falsch gemacht hat, dass es überhaupt zum Brexit kam. Und wie es um die Strahlkraft des einst so attraktiven Bündnisses heute bestellt ist: „Die wohlhabenden Länder wollen doch gar nicht mehr in die EU, das sind doch nur noch Serbien, Albanien und der Kosovo!“ Soll heißen: Der Brexit ist überall.

Gallig diagnostiziert Schümer, die EU sei von den ökonomische starken Länder lange nur als Veranstaltung zur Gewinnmaximierung betrachtet worden – mit negativen Folgen für den ländlichen Raum an den Rändern der Gemeinschaft: „Was hat die Freizügigkeit dem rumänischen Bauern gebracht?“ Dörfer verödeten, weil sich zum Beispiel alle Ärzte nach Westeuropa aufmachten. Schümer: „Die Verlierer dieses ökonomischen Spiels melden sich jetzt.“ Sein Fazit: Europa macht sich selbst kaputt, weil es zu viel soziales Ungleichgewicht hinnimmt. Gabriel zog daraus den Schluss, dass gerade Deutschland als Exportweltmeister einsehen müsse, „dass uns das was kostet“.

Anette Dittert, die frühere Warschau-Korrespondentin, beschwor noch eine ganz andere Gefahr herauf: dass zunehmend Staaten in Nationalismus und Autokratie versinken und von Brüssel nur noch das Geld wollen. Polen zum Beispiel sei auf dem Weg zur Diktatur, dort würden außerdem systematisch antieuropäische Ressentiments geschürt. So werde Europa von innen ausgehöhlt.