Annalena Baerbock (links) mit den Moderatoren Thilo Mischke und Katrin Bauerfeind Foto: ProSieben/Max Hannes Beutler

Ihr erstes großes TV-Interview gab Annalena Baerbock nach ihrer Nominierung nicht in ARD oder ZDF, sondern ausgerechnet beim Münchner Privatsender Pro Sieben. Was steckt dahinter?

München - Das war vielleicht die größte Überraschung eines politisch denkwürdigen 19. April 2021: Ausgerechnet bei Pro Sieben gab Annalena Baerbock als frisch gekürte Kanzlerkandidatin der Grünen ihr erstes ausführliches Interview. Natürlich war die 40-Jährige im Lauf des Abends auch noch im „Heute-Journal“ und in den „Tagesthemen“ zu Gast. Dort bewegten sich die Interviews aber im üblichen Magazinrahmen – während der Münchner Privatsender für das Interview zur Primetime ab 20.15 Uhr außerplanmäßig satte 45 Minuten zur Verfügung stellte.

Auch das Setting des Gesprächs war ungewöhnlich: Keiner der arrivierten Hauptstadtkorrespondenten stellte die Fragen, sondern die Publizistin Katrin Bauerfeind (38) und der Autor und Moderator Thilo Mischke (40). Dass im Nachhinein manche Medien ihre Fragen an die Spitzenfrau der Grünen als „zahm“ kritisieren, trifft die Sache zwar zum Teil. Die Kritik ist aber auch schlicht Ausdruck des Erstaunens, dass sich hier ein Stück Polit-Fernsehen an ungewohntem Ort wiederfindet – ausgerechnet beim Münchner „Spaßsender“ Pro Sieben.

Der Sender schmiss erst kürzlich sein Programm um

Doch der Abend mit Annalena Baerbock soll nach Information des Senders kein Sonderfall bleiben. Daniel Rosemann, der Pro-Sieben-Chef, teilt mit: „Dieses exklusive Interview war unser Auftakt in das Wahljahr.“ Man wolle die Bundestagswahl weiter „intensiv begleiten“, und zwar über die „klassische Berichterstattung hinaus“ mit Themen, „die den Menschen in unserem Land auf der Seele brennen, wie zum Beispiel das Thema Pflege“. Damit erinnert Rosemann auch an die Großaktion vor drei Wochen, als der Sender sein Abendprogramm völlig umschmiss und acht Stunden lang, von 20.15 Uhr bis tief in die Nacht, live und in Echtzeit den Alltag einer Krankenpflegerin dokumentierte. Für dieses Projekt, offiziell eingefädelt von den auch sonst politisch gern engagierten Moderatoren Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf, erntete Pro Sieben nicht nur Lob von Zuschauern, Politik und Verbänden, sondern sogar von der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz.

Für Annalena Baerbock passte die Anfrage von Pro Sieben jedenfalls perfekt. Sie positioniert sich ja bewusst als Newcomer-Kandidatin der „Scharniergeneration“, also zwischen den hochengagierten Jüngeren und den aktuell mit politischer Macht ausgestatteten Älteren à la Laschet/Söder/Scholz. Bei kaum einem Sender erreicht Baerbock ihre Wunschwähler besser als hier: Im Gesamtquotenranking lag Pro Sieben 2020 mit vier Prozent im Jahresdurchschnitt zwar nur auf Platz sechs (hinter ZDF, ARD, RTL, Sat 1 und Vox). Doch bei den eben nicht nur für die Werbung, sondern auch für die Grünen besonders relevanten 14- bis 49-Jährigen erreichen die Münchner hinter RTL (11,4 Prozent) den zweiten Platz: 9,1 Prozent.

Wird das Profil mit politischen Akzenten ergänzt?

Zweifellos erzielt Pro Sieben solche Werte getreu seinem Motto „We love to entertain you“ vor allem mit spektakulären Showformaten wie zum Beispiel mit „Joko und Klaas“ und „The masked Singer“. Aber Senderchef Daniel Rosemann gab am Dienstag als Einschaltquote für das Baerbock-Interview bei den 14- bis 49-Jährigen 8,5 Prozent an – das heißt, der Sender hat seine aktuelle Zielmarke von 9,1 Prozent mit dieser zuvor ja gar nicht groß angekündigten Sondersendung fast erreicht. Wenn die Münchner also tatsächlich planen, ihr Programmprofil mit politischen Akzenten zu ergänzen, werden sie sich am Tag danach durch die Zahlen bestärkt sehen. Und vermutlich geht es gerade auch noch weniger um Ziffern vor oder hinterm Komma, sondern um Imagefragen.

Auch sonst stimmt die Kommentar-Schublade „Spaßsender“ für Pro Sieben nämlich nur noch begrenzt. Verdrängt wurden durch das Interview mit der Grünen-Kandidatin nämlich keineswegs Spaßsendungen, sondern eine Doppelfolge des Ökodramas „Chernobyl“ über eine atomverseuchte Zukunft – gefolgt von der der Doku-Serie „Tschernobyl“ über die wahre Reaktorkatastrophe 1986 und ihre Folgen; beides folgte dann im Anschluss. Man ahnt: Die privaten TV-Sender spüren neue Interessen an politischen und gesellschaftlichen Themen in ihrer Zielgruppe. Spannend zu beobachten, ob daraus auch journalistisch mehr wird als ein Stochern auf dem Quotenmarkt.