Andreas Hollstein, Bürgermeister von Altena, am Tag nach dem Angriff auf ihn Foto: dpa

Drohungen, Hass, Gewalt: Kommunalpolitiker geraten immer häufiger persönlich ins Visier gefährlicher Gegner – so wie jüngst der Bürgermeister von Altena.

Altena/Berlin - Etwa so groß wie ein Handteller ist das weiße Pflaster an Andreas Hollsteins Hals. Eine Ecke verschwindet unter dem Hemdkragen. Der Bürgermeister hat am Dienstagmorgen schon wieder eine Krawatte umgelegt. Die Alltagsuniform des Kommunalpolitikers sitzt. Sonst aber ist einiges verrutscht.

Genau 15 Stunden ist es her, da lief Blut über Hollsteins Hemdkragen. 19.50 Uhr, der Bürgermeister von Altena war gerade aus dem Ratssaal gekommen, auf dem Heimweg ging er im Dönerladen um die Ecke vorbei. Seine Frau war krank zu Hause, der vierfache Vater wollte Abendessen mitbringen.

Auf einmal hatte er ein 30 Zentimeter langes Messer am Hals. „Ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte, fragte: ‚Sind Sie der Bürgermeister?‘“, so berichtet Hollstein. Dann zog der Täter das Messer und schrie: „Mich lassen Sie verdursten, aber holen 200 Flüchtlinge nach Altena.“ Der Attackierte reagierte schnell, genau wie der Wirt und dessen Sohn, Abdullah und Ahmet Demir. Gemeinsam überwältigten sie den Mann und hielten ihn fest, bis die Polizei kam.

Der Hass auf den Marktplätzen

So weit, so irre. Jetzt, am Tag danach, sieht Hollsteins Gesicht müde aus, die Haut der Wangen ist gerötet, wie einen Schutzwall hat er die Arme vor sich verschränkt und hält sich an sich selber fest. Er sollte sich vielleicht lieber ausruhen, muss aber etwas loswerden. Deshalb hat er ins Rathaus geladen.

Er will der Republik etwas sagen: darüber, wie er fast gestorben wäre. Aber auch über den Hass, der seit einiger Zeit Lokalpolitikern auf Marktplätzen und im Internet entgegenschlägt, über eine politische Debatte, die inzwischen so radikal geführt wird, dass sie gefährlich ist. Über ein Land, das zwar eigentlich ganz gut funktioniert, aber immer öfter nicht so wahrgenommen wird. Und das deshalb in manchen Momenten droht aus den Fugen zu geraten.

„Das ganze Land ist polarisiert“, sagt Hollstein. Der Amtschef ist ein erfahrener Kommunalpolitiker, er arbeitet seit 18 Jahren als Bürgermeister. Er kennt seine Stadt in- und auswendig. 2014 wurde der CDU-Mann mit 70 Prozent wiedergewählt.

Altena ist eine kleine Stadt im Sauerland, 18 000 Einwohner, ein Ort, an dem man ein „unspektakuläres Leben“ führt. Seit zwei Jahren aber, seit dem Flüchtlingssommer 2015, kennt die ganze Republik das Nest: Denn Andreas Hollstein wagt zu sagen, dass seine Stadt mehr Flüchtlinge aufnehmen könne, als ihr per Schlüssel zugewiesen wurden. Hollstein begründet seinen Schritt damals mit dem Bevölkerungsschwund in seiner Gemeinde – ein Sachargument.

Häuser brennen, aus Mailfächern quellen Drohungen

Kurz danach, im Oktober, brennt in Altena ein Haus, in dem eine Familie aus Syrien wohnte, die Frau schwanger. Brandstiftung, Benzin im Dachgeschoss, eine geplante Tat, wie die Ermittler herausfinden. Die Täter: ein 23-Jähriger und ein 25-Jähriger, der Ältere Feuerwehrmann. Ihr Motiv: „Verärgerung über den Einzug von Flüchtlingen“.

Die Tat schlägt hohe Wellen – auch weil die Staatsanwaltschaft zunächst kein fremdenfeindliches Motiv gefunden haben will, trotz der Aussage der Täter. Deren Handeln erinnert an den Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim in Tröglitz ein halbes Jahr zuvor, reihte sich ein in eine rapide wachsende Zahl von fremdenfeindlichen Attacken, Feuern, Zerstörungen. Schmierereien. Das Land verändert sich in jenen Monaten, eine politische Klimaverschärfung setzt sich fest. Es sind nicht nur die montäglichen „Volksverräter“-Sprechchöre bei Pegida in Dresden. Innerhalb der politischen Rechten beginnt ganz offensiv die Strategie, einzelne Personen anzuprangern: Politiker, Kirchenleute, Staatsanwälte, Journalisten. Die sozialen Medien Twitter und Facebook eignen sich hervorragend dafür, Gegner an den Pranger zu stellen. Es gibt dafür bald einen eigenen Hashtag, der im Internet benutzt wird: #merktEuchdieNamen.

Auch in der Wirklichkeit, auf der Straße, ist der Hass angekommen: Politiker auf Bundesebene berichten von Beschimpfungen, Debatten, Drohungen. Noch frisch ist die Erinnerung an die Bilder aus dem Bundestagswahlkampf, bei dem die Kanzlerin übel beschimpft wird. Bad in der Menge? Lieber Abstand halten.

Eine Politikergruppe allerdings kann sich Distanz nicht erlauben: Es sind Leute wie Andreas Hollstein. Kommunalpolitiker. Die stehen vorne. Und sie bekommen alles ab.

Die Kommunalpolitiker bekommen alles ab

Im Oktober 2015 wird Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker einen Tag vor ihrer Wahl von einem Rechtsextremisten mit einem Messer angegriffen und lebensgefährlich verletzt. Der Bürgermeister von Tröglitz, Markus Nierth, tritt von seinem Amt zurück, weil die Behörden es nicht verhindern, dass eine NPD-Demonstration gegen Asylbewerber vor sein Privathaus führt. Er wird mit dem Tode bedroht, die Familie bekommt Briefe voller Kot. Der Landrat des Main-Kinzig-Kreises, Erich Pipa, findet auf seinem Schreibtisch einen Brief mit einer konkreten Todesdrohung wegen seiner flüchtlingsfreundlichen Äußerungen. Der Bürgermeister von Oersdorf, Joachim Kebschull, wird auf dem Weg zu einer Sitzung mit einem Kantholz niedergeschlagen. In der Sitzung sollte es um ein Wohnprojekt auch für Flüchtlinge gehen. In Berlin-Neukölln brennen Privatwagen von Kommunalpolitikern der SPD und der Grünen, Scheiben werden eingeworfen. Eine Serie von Anschlägen dauert schon seit eineinhalb Jahren. Schon länger fordert der Städte- und Gemeindebund ein neues Gesetz – gegen das Stalking von Politikern unterhalb der bisherigen Strafbarkeitsgrenze. Die Begründung ist nahe liegend: Wenn immer mehr Politiker so unter Druck gesetzt werden, fragen sie sich, ob das Amt dies wert ist. Das schadet der Demokratie am Ende empfindlich.

„Der Diskurs wird in Deutschland immer härter und rücksichtsloser geführt“, sagt Hollstein am Dienstag bei seiner Pressekonferenz. Er ist ein ruhiger, sachlicher Typ, bisher war er immer sicher, dass die Drohungen ihn nicht einschüchtern. Hassmails bekommt er seit Langem viele. Auch seine Familie steht mittlerweile mitunter im Fokus. „Auch jeder Ratsherr, der sich für Mitmenschen einsetzt, erlebt mittlerweile Hass“, berichtet er.

Das Gift sickert in simple Gemüter

Wo kommt das her? Wer trägt Verantwortung? Noch weiß Hollstein wenig über den Täter – außer dem Neid, den dieser selbst in seiner Aussage artikuliert hat. Die Staatsanwaltschaft wird später von einer spontanen Tat sprechen und keinem größeren ideologischen Überbau. Aber schon am Morgen mutmaßt der Bürgermeister: „Für mich ist er das Werkzeug anderer.“ Er glaubt, dass das Internet wie ein Schubkraftverstärker wirkt: „Ich glaube, dass das Gift, das Menschen säen, über soziale Medien Eingang in simple Gemüter findet.“ Es sei die polarisierte Debatte, sagt der Bürgermeister – „in Altena, wie im Rest der Republik auch“.

Hollstein lässt den Blick nach Berlin schweifen, in den Bundestag, in dem die AfD sitzt. Zu Recht werde die Partei für ihr „unklares Verhältnis zu menschenverachtenden Haltungen“ kritisiert, meint Hollstein. Aber dass sie im Bundestag sitze, sei nicht allein Ausdruck einer rechten Haltung, sondern einer „hilflosen Gesellschaft“.

Wie soll es nun weitergehen? Er jedenfalls will sich weiter einsetzen, „für Flüchtlinge, aber auch für andere sozial Schwache“. Hollstein setzt auf Reden. „Es bringt uns nicht weiter, wenn wir unterschiedliche politische Meinungen mit Hass rüberbringen.“ Ob das hilft? In seinem Mailfach fand er am Morgen nach der Tat einige Post von Fremden. Sie erklärten ihm, wie richtig sie den Messerangriff finden.