Fordert Aufklärung: Russlands Außenminister Sergej Lawrow Foto: Getty Images Europe

Auch zwei Wochen nach einer angeblichen Vergewaltigung einer 13-jährigen Russin in Berlin gibt es noch viele Fragen. Jetzt mischt sich sogar der Kreml ein.

Berlin/Moskau/Konstanz - Das Gerücht über eine Vergewaltigung einer 13 Jahre alten Russin in Berlin hält sich hartnäckig. Und die Reaktionen darauf nehmen skurrile Züge an. Am Wochenende demonstrierten bundesweit Tausende Menschen für mehr Schutz von Frauen und Kindern. In sozialen Netzwerken im Internet rufen immer mehr rechte und fremdenfeindliche Gruppen zu Selbstjustiz und Gewalt gegen Flüchtlinge auf. Und nun thematisierte auch der russische Außenminister Sergej Lawrow den Fall.

„Ich hoffe, dass diese Migrationsprobleme nicht zum Versuch führen, die Wirklichkeit aus irgendwelchen innenpolitischen Gründen zu übermalen – das wäre falsch“, sagte Lawrow auf einer internationalen Jahrespressekonferenz am Dienstag in Moskau mit Blick auf die deutsche Asylpolitik. Er fordere von deutschen Behörden lückenlose Aufklärung, sagte der Kreml-Vertreter: „Es ist klar, dass das Mädchen sicher nicht freiwillig für 30 Stunden verschwand.“

Bisher nur wenige Fakten, aber viele Spekulationen

Doch was ist in diesem Fall schon wirklich klar? Der Reihe nach: Bisherigen Erkenntnissen der Berliner Polizei zufolge war die Schülerin aus dem Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf am frühen Morgen des 11. Januar auf dem Weg zur Schule verschwunden und von ihren Eltern als vermisst gemeldet worden. Am Dienstagnachmittag kehrte sie in ihr Elternhaus zurück – so weit, so unstrittig.

Was in den etwa 30 Stunden zwischen dem Verschwinden und dem Wiederauftauchen passiert ist, ist unklar. Bisher gibt es nur wenige Fakten.

Nach Angaben der Polizei verstrickte sich das Mädchen in einer Vernehmung in Widersprüche. Der russische Staatsfernsehsender Perwy kanal (Erster Kanal), der auch von den rund sechs Millionen Russisch sprechenden Menschen in Deutschland empfangen werden kann, arbeitete den Fall in einem vierminütigen Beitrag am 16. Januar auf. Der Korrespondent Ivan Blagoy spricht darin mit einer angeblichen Tante des Mädchens. Diese Frau behauptet, drei Männer mit „südländischem Aussehen“ hätten ihre Nichte erst entführt, dann „abwechselnd vergewaltigt und geschlagen“. Die Eltern und die 13-Jährige kommen in dem Beitrag nicht zu Wort. Die Begründung des Senders: Die Familie habe Angst, das Jugendamt könne ihr die Tochter wegnehmen.

Obwohl die Entführungs- und Vergewaltigungsversion lediglich auf der Aussage einer einzigen Frau basiert, verbreitete sich die Geschichte im Internet rasend schnell. Vor allem im sozialen Netzwerk Facebook ist der Ausschnitt der Sendung (mit deutschen Untertiteln) mehr als 30 000-mal geteilt worden. Als die Berliner Polizei die Dynamik bemerkte, reagierte sie und teilte nachdrücklich mit, dass an jener Version der Geschichte nichts dran sei: „Fakt ist: Nach den Ermittlungen des Landeskriminalamts gab es weder eine Entführung noch eine Vergewaltigung.“

Anwalt aus Konstanz erstattet Strafanzeige wegen Volksverhetzung

Der Rechtsanwalt Martin Luithle aus Konstanz sieht in dem Beitrag des russischen Senders einen Angriff auf den deutschen Rechtsstaat und eine große Gefahr für Flüchtlinge. „Diese Vorgänge sind ein hochgefährliches Gemisch aus Behauptungen, unser Staat funktioniere nicht, und Fremdenhass“, betont er im Gespräch mit unserer Zeitung. Wegen des Verdachts der Volksverhetzung hat Luithle deshalb Strafanzeige gegen den Journalisten Blagoy erstattet. Er sieht seinen Schritt als Akt der Zivilcourage: „Durch die Berichterstattung werden der öffentliche Frieden gestört und Menschen zu Hass aufgestachelt. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen als Demokratie und Rechtsstaat wehrhaft bleiben.“

Doch nach den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln und der miserablen Öffentlichkeitsarbeit der Polizei danach wächst das Misstrauen in den Staat. Nicht wenige Menschen vertrauen dem russischen Staatsfernsehen nun offenbar mehr als den deutschen Behörden. Anders ist es kaum zu erklären, dass am Wochenende bundesweit mehr als 11 000 Menschen für mehr Schutz von Frauen und Kindern vor Flüchtlingen demonstrierten. Auch in Pforzheim, Villingen-Schwenningen, Rastatt und Ellwangen gab es große Kundgebungen unter dem Motto „Gegen Gewalt und für mehr Sicherheit in Deutschland“. Auffällig war, dass die Veranstaltungen von rechten Gruppen unterwandert wurden. Fremdenfeindliche Bündnisse hatten zuvor bereits die angebliche Vergewaltigungsstory aus Berlin genutzt, um gegen Flüchtlinge zu wettern.

Gab es einvernehmlichen Sex? Oder gar keinen?

Der Sprecher der russischen Botschaft in Berlin, Sergej Beljaew, sagte, man habe die Situation selbst „sorgfältig untersucht“ und zweifle „an der Stichhaltigkeit der Schlussfolgerungen“ der Polizei. Dass Luithle Anzeige gegen Blagoy gestellt hat, werteten die Russen als Angriff auf die Pressefreiheit. Es sei „der Versuch, deutsche Behörden zu provozieren, seine Tätigkeit einzuschränken“. Der Erste Kanal legte derweil nach – mit einer Attacke im Fernsehen gegen Luithle. Nach eigenen Angaben steht der Jurist mittlerweile unter Polizeischutz. „Ich habe keine Angst. Ich bin auf alles vorbereitet“, sagt er.

Die Berliner Staatsanwaltschaft versucht unterdessen herauszufinden, was in den 30 Stunden tatsächlich passiert ist. Es gebe den Verdacht, dass es bereits vor dem Verschwinden des Mädchens zu einvernehmlichem Sex gekommen sei, sagte ein Sprecher. Im Visier der Ermittler sind zwei Männer mit türkischen Wurzeln. Weil Sex mit Kindern unter 14 Jahren ausnahmslos verboten ist, droht ein Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs. Doch ob es überhaupt sexuelle Handlungen gab, wird am Ende nur Lisa F. sagen können.