Szene aus 'Wer, wenn nicht wir' von Andres Veiel: Gudrun Ensslin (Lena Lauzemis) und Bernward Vesper (August Diehl) bei ihrer Verlobung Foto: Markus Jans/zero one film

Der Stuttgarter Doku-Filmer Andres Veiel über sein Spielfilmdebüt "Wer, wenn nicht wir".

Stuttgart - Andres Veiel gehört zu den profilierten deutschen Dokumentarfilmern. In "Black Box BRD" hat er sich mit Opfern und Tätern des Mordes der RAF an Alfred Herrhausen beschäftigt. In seinem Spielfilmdebüt ergründet er die Wurzeln des deutschen Linksterrorismus.

Herr Veiel, Sie haben ein Zitat Rudi Dutschkes als Titel gewählt . . .

Er hat das vor 1000 Leuten beim Vietnamkongress im Februar 1968 gesagt: Der Riese Amerika hat eine erste Schlappe in Vietnam einstecken müssen und wankt, jetzt ist der historische Moment, an dem Revolution möglich ist - wer, wenn nicht wir, und wann, wenn nicht jetzt? Treffender lässt sich der Geist der Zeitenwende kaum beschreiben, in die meine Figuren geraten.

Eigentlich handelt Ihr Film aber von der Zeit vor den Studentenprotesten und der RAF.

Ja, mein Film endet mit dem ersten Schuss. Es geht nicht um die RAF, sondern um die Vorgeschichte, die Hinführung, die bislang kaum unter die Lupe genommen worden ist. Die Akteure werden meist auf durchgeknallte Kriminelle reduziert, im "Baader Meinhof Komplex" hat man nur gesehen, was die RAF getan hat, aber nicht, warum.

Und wie beantworten Sie das?

Das Private ist politisch, so lautet ein Kernsatz dieser Zeit, und mir geht es um die Treibsätze. Ich beginne 1961, zeige Zufälle, familiäre Prägungen, ein Ursachendickicht, das viel komplexer ist als die bekannten Bilderschleifen mit den Schüssen auf Ohnesorg und das brennende Springer-Haus. Wir tendieren dazu, von hinten her zu denken. Wenn man früher anfängt, in die Familien geht, merkt man, dass alles hätte ganz anders kommen können. Ich zeige ein Kaleidoskop an Möglichkeiten, aus dem die Zuschauer sich ein eigenes Bild machen können.

Ihr Ausgangspunkt war Gerd Koenens Buch "Vesper, Ensslin, Baader" von 2003. Wie verdichtet man ein so faktenreiches Werk?

Ich habe selbst noch recherchiert und vierzig Interviews mit Zeitzeugen geführt, wollte aber keinen TV-Mehrteiler machen, bei dem man von einem Ereignis zum nächsten hetzt. Also habe ich schweren Herzens die Kettensäge angesetzt, weil ich vertiefen, verweilen, menschliche Momente herstellen wollte. Gudrun Ensslin hat aus der Haft Briefe an ihren Sohn Felix geschrieben, die zeigen: Das war keine Medea, die kalt ihr Kind geopfert hat, sondern eine liebende Mutter, die extrem unter der Trennung gelittem hat. Deshalb hat sie vielleicht so extrem kompromisslos gehandelt. Wenn man sein Kind verlässt, muss danach etwas Großes kommen, sonst kann man das vor sich selbst niemals rechtfertigen.

"Auch heute gilt die Losung"

Ihr Fokus liegt wie bei Koenen auf der Verbindung Ensslins mit Bernward Vesper, dem Sohn eines Nazi-Dichters.

Bereits 1963 hat Bernward die Werke seines Vaters Will veröffentlicht, und Gudrun hat ihn dabei unterstützt. Er wollte aus dem Schatten des Vaters treten und glaubte, um sich mit ihm auseinanderzusetzen, müsse er gedruckt sein. In Berlin wurde beiden dann klar, dass man abgestandene NS-Literatur ohne kritische Aufarbeitung nicht ungestraft unters Volk bringen kann. Das war der erste Riss. Zunächst aber hat Gudrun Ensslin sich Bernward Vesper ein Stück weit unterworfen, wie nachher auch Baader. Wieso tut eine intelligente, starke Frau das? Um solche Fragen ging es mir.

Wieso haben Sie sich erstmals für einen Spielfilm entschieden?

Das dokumentarisch zu machen hat sich verboten, weil die Zeitzeugen nicht vor die Kamera wollten. Im Spielfilm muss ich nicht wacklig etwas angeblich Authentisches behaupten, sondern kann neue Fragen aufwerfen und nachklingen lassen.

Erzählen Sie deswegen streng chronologisch und vermeiden allzu spektakuläre Szenen?

Beim Schreiben habe ich einen dramatischen Showdown in der Tiefgarage erwogen, auf der einen Seite Gudrun Ensslin und Baader, der schon im Auto sitzt und Gas gibt, auf der anderen Seite Bernward Vesper mit dem kleinen Felix. Das habe ich verworfen.

Warum?

Es hätte so ausgesehen, als hätte es die RAF nie gegeben, wenn sie sich anders entschieden hätte. Das ist aber Blödsinn, eine totale Verkürzung. Manche werfen mir jetzt vor, im Film fehle das Eros des Steinewerfens, aber nach "Baader" und dem "Baader Meinhof Komplex" brauchte es meiner Ansicht nach einen Film, der diese Dinge so präzise wie möglich auslotet. Ich wollte hinter die bekannten Bilder blicken, mich interessiert, wie Menschen sich verändern. Das sind zum Teil nur haarrissgroße Sprünge, die sich fein in Beziehungen offenbaren, und die Schauspieler spielen ins Offene, lassen vieles mehrdeutig. Gudrun verletzt sich in einer Szene - warum? Waren es die Berichte aus Vietnam? Da bleibt Raum für eigene Interpretationen. In fünf Jahren kann dann ja Quentin Tarantino kommen und sagen: Jetzt pfeifen wir auf die historische Wahrheit!

Wie haben Sie die Schauspieler für diesen anspruchsvollen Ansatz ausgewählt, wie haben Sie sie eingestellt?

August Diehl hatte ich schon im Kopf, als ich die ersten Drehbuchseiten schrieb, Lena Lauzemis habe ich beim Casting entdeckt. Sie hatte Koenens Buch schon gelesen und hat selbst diese Fragen gestellt. Sie ist eine Besessene, wollte alles wissen zu dieser Zeit und dieser Figur. Sie geht ja einen weiten Weg von der mädchenhaften Gudrun Ensslin, die die erste Liebe erlebt, zur Mutter, die ihr Kind aufgibt. Wir haben dann intensiv geprobt, um gemeinsam herauszufinden: Wer sind diese Figuren? Entscheidend war, dass die Schauspieler die politischen Sätze begreifen und wirklich denkend sprechen, sonst klingt das wie eine historische Deklamation und die Leute fangen an, die Worte mechanisch auszuspucken wie ein Maschinengewehr.

Sehen Sie Parallelen zwischen den Studentenprotesten von damals und den Bürgerprotesten von heute?

Auf jeden Fall, das ist ein sehr gegenwärtiger Film. Die Widersprüche und das Unbehagen sind heute nicht kleiner. In der Bankenkrise hat man 500 Milliarden in einen Rettungsschirm gepumpt, obwohl die meisten Politiker selbst nicht verstehen, was mit dem Geld passiert. Man hat die Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert, und niemand weiß, wann die Blase das nächste Mal platzt. Sogar die "FAZ" hat damals die Systemfrage gestellt. Oder die Klimakatastrophe - auch heute gilt die Losung: Wer, wenn nicht wir? Ich halte das Stethoskop an eine solche Zeit und frage mit Elfriede Jelinek: Was muss passieren, dass etwas passiert?

Premiere in Stuttgart am Donnerstag (10.3.2011) im Kino Delphi, 19.30 Uhr