Amokwarnsignale sollen im Ernstfall Schlimmeres verhindern. Doch die Systeme funktionieren nicht richtig. Die Politik ist am Zug.

Stuttgart - Montag, 9. April, am Körperbehindertenzentrum Oberschwaben in Weingarten (Kreis Ravensburg) wird Amokalarm ausgelöst. Zwei Stunden lang verbarrikadieren sich 400 Schüler und Lehrer in ihren Klassenzimmern. Ein Hubschrauber steigt auf, aus Göppingen rückt ein Sondereinsatzkommando an, allerdings mit großer Verspätung. Rund 30 Minuten lang hatte niemand aus der Schule heraus den Alarm an die Polizei weitergemeldet. Einen Täter gibt es gar nicht. Der Alarm sei versehentlich durch eine Telefonfehlbedienung ausgelöst worden, teilt die Polizei zwei Tage später mit. Der Frust sitzt tief. Bereits im Februar hatte ein Fehlalarm an derselben Schule Kinder, Lehrer und Beamte in helle Aufregung versetzt.

Nicht nur in Weingarten gab es Phantomangreifer. Im November rückten mehr als 100 teils schwer bewaffnete Spezialkräfte mit Luftunterstützung auf die Friedrich-List-Schule in Ulm zu. Gleich zweimal während des Vormittags war Amokalarm ausgelöst worden. Ein Kabel war defekt, so wie schon im vorangegangenen September. Ähnliches trug sich in den vergangenen sechs Monaten auch an Schulen in Rutesheim (Kreis Böblingen), Pforzheim oder Steinegg (Enzkreis) zu.

Laut dem Kultusministerium ist es 2014 an 18 Schulen im Land zu Fehlalarmierungen gekommen, 2015 zu vier, 2016 waren es zwölf. Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) sieht eine Grenze erreicht. „Das Land muss alles tun, um diese Fehlerquoten zu verringern und das Personal zu schonen“, fordert der Landesvorsitzende Ralf Kusterer.

Eine bunte Techniklandschaft ist entstanden

Amok-Fehlalarmierungen an Schulen gibt es deutschlandweit, aber in Baden-Württemberg herrscht seit dem Amoklauf von Winnenden 2009 eine Sondersituation. Im Zuge der Aufarbeitung des tragischen Geschehens hatte ein vom Land eingesetzter Expertenkreis Amok Handlungsempfehlungen für Schulträger veröffentlicht. Eine davon lautete, Schulen mit einem Amokalarmsignal auszustatten. Zahlen mussten dafür die Schulträger, also zumeist Städte und Gemeinden. Sie beauftragten die verschiedensten Fachfirmen. Das Ergebnis ist eine bunte Techniklandschaft, in der mal hinter Glas platzierte Notrufknöpfe in den Schulfluren eine Rolle spielen, mal Telefone mit Nummerncodes, dann wieder spezielle Sprachalarm-Anlagen. Allein die Deutsche Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit (DGWZ), die auch Fortbildungen in Sachen Amokdrohung organisiert, listet insgesamt mehr als 30 Herstellerfirmen auf.

So unterschiedlich die verbauten Anlagen auch sind, sie besitzen eine merkwürdige Gemeinsamkeit: Ein innerhalb von Schulen ausgelöster Alarm wird nicht automatisch an die nächste Polizeibehörde weitergeleitet – das muss stets noch einmal individuell per Telefon geschehen. Der Grund ist, dass dafür bisher schlicht die Gesetzesgrundlage fehlte. Erst jetzt soll sich das nach und nach ändern, teilt das baden-württembergische Innenministerium auf Anfrage unserer Zeitung mit, und zwar auf Grundlage einer neuen sogenannten ÜEA-Richtlinie. Ausgeschrieben steht das Kürzel für „Bundeseinheitliche Richtlinie für Überfall/Einbruchmeldeanlagen bzw. Anlagen für Notfälle/Gefahren mit Anschluss an die Polizei“. Die Hoffnung hinter einem zwischen Schulen und Polizei verkoppelten Alarmsystem: „Fehlalarme lassen sich schneller verifizieren.“ So sagt es ein Sprecher des Innenministeriums.

Normen für Sicherheitssysteme sind nicht verbindlich

Wie so eine Alarm-Fernprüfung durch die Polizei aussehen könnte, darüber gibt der Wortlaut der ÜEA-Richtlinie klare Hinweise. So soll eine „optionale Bildübertragung“ möglich sein. Polizeibeamte in der Leitstelle könnten damit theoretisch gleich in die Flure oder Höfe von Schulen gucken, um zu sehen, was sich tut – und im Zweifelsfall weniger Kräfte losschicken. Für Gewerkschafter Kusterer wären Videobilder für die Polizei im Alarmfall ein Gebot der schlichten Vernunft. „Wir sind ja datenschutzmäßig schon ein bisschen quer unterwegs“, sagt er über die Rechtslage.

Christian Kühn vom Zentralverband Elektroindustrie (ZVEI) mit Sitz in Frankfurt begrüßt die Anstrengungen von Bund und Ländern, die Alarmsysteme an Schulen zu verbessern. Er bemängelt allerdings, dass die neu geschaffenen Möglichkeiten nicht mit einer verbindlichen Norm verbunden sind, verankert zum Beispiel in der Muster-Schulbaurichtlinie. Da sei schon die „Achillesferse“ der bisherigen Systeme, so Kühn. „Die Anlagen, die derzeit im Markt sind, sind in aller Regel nicht genormt und damit im Zweifelsfall auch fehlalarmanfälliger.“

Ungeklärt ist bisher, was der Aufbau moderner Notruf- und Gefahrenreaktionssystemen die Schulträger kosten würde. Es braucht, je nach vorhandener Technik, zusätzliche Übertragungsnetze, Kommunikationsgeräte, Gateways oder Verschlüsselungsgeräte. Und noch einen Haken gibt es: Niemand weiß derzeit, ob es direkt aufgeschalteten Polizeidienststellen dann auch wirklich gelingt, Fehlalarme früher zu identifizieren. Die Hessen testen das derzeit, dort sind in Frankfurt und Wiesbaden mehrere Schulen mit der modernsten Technik ausgerüstet worden. „Hier warten wir auf die Erfahrungen“, teilt der Elektroindustrieverband mit. Zumindest 2018 dürfte sich die hohe Zahl an Amok-Irrtümern im Bereich von Schulen fortsetzen.