Ein Alzheimer-Patient in Yarumal wird von seiner Tochter gepflegt. In den kolumbianischen Ort erkrankt wegen eines Gendefekts jeder Zweite an Demenz. Foto: AFP

Ein Antikörper, der die gefürchtete Alzheimer-Krankheit stoppen sollte, funktioniert nicht wie gedacht.

Yarumal - La Bobera, Verrücktheit, nennen die Bewohner des Berglandes im Norden Kolumbiens den Fluch, der sie seit 250 Jahren heimsucht. Rund um das Bergstädtchen Yarumal erkrankt fast jeder zweite an Alzheimer. Seit Ende der 1980er Jahre kennt man die Ursache der Heimsuchung. Viele Familien tragen eine gefährliche Mutation in ihren Genen. Schon in der Jugend bilden sich in ihren Gehirnen dicke Eiweiß-Klumpen. Bereits im Alter von 40 Jahren gehen Orientierung, Sprache und Gedächtnis verloren. Mit 50 sind die meisten Opfer dement.

Bei den Betroffenen ist der Abbau oder die Produktion des sogenannten Amyloid-Precursor-Proteins in der Nervenzellmembran gestört. Hier setzt die Therapieidee an. Doch vergebens: Das Medikament, mit dem das Pharmaunternehmen Eli Lilly die Therapie der Erkrankung revolutionieren wollte, ist gescheitert.

Der Wirkstoff Solanezumab ist ein Antikörper, der das Amyloid abzufangen versucht, bevor es sich zu Plaques zusammenlagert. Dass das auch die Symptome der Patienten bessert, versuchte das Unternehmen zu belegen. Was manche Wissenschaftler nachdenklich macht: Nicht nur die aktuelle Studie, auch alle anderen Versuche, ihre Hypothese in konkrete Therapien umzusetzen, waren bislang ein Fehlschlag. Ähnlich wie Lilly ging es der Konkurrenz mit dem verwandten Bapineuzumab. Die Versuche, mit sogenannten Gamma-Sekretase-Hemmern die Herstellung des Amyloids zu bremsen, verschlechterten sogar das Befinden mancher Patienten.

Die meisten Patienten erkranken im hohen Alter

Und selbst als es per Impfung gelang, die Amyloidablagerung im Hirn teilweise dramatisch zu schrumpfen, half das dem Gedächtnis nicht auf die Sprünge. „Meiner Meinung nach wird es nicht reichen, einfach das Amyloid abzuräumen“, sagt Christian Behl, der Direktor des Instituts für Pathobiochemie der Universitätsmedizin Mainz. Zu den Aufgaben eines Wissenschaftlers gehöre es auch immer, die eigenen Arbeitshypothesen zu hinterfragen. Die meisten Patienten erkranken erst im hohen Alter und ohne eindeutige genetische Störung des Amyloid-Stoffwechsels. „Und hier ist die Amyloid-Hypothese noch keineswegs bewiesen.“

Es gibt auch andere Meinungen. Für Christian Haass existiert zum Beispiel ein einfacher Grund für die Erfolglosigkeit: Man hat nicht früh genug mit der Behandlung angefangen. „Ist das Gehirn einmal zerstört, können Sie die Uhr nicht zurückdrehen“, sagt der Sprecher des Münchner Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen. Angesichts derart eindeutiger Fälle wie der Menschen in Yarumal sei es für ihn unvorstellbar, sagt der Biologe, „dass an der Amyloid-Hypothese nichts dran ist. Punkt. Aus. Ende.“

Nur: Den gleichen Argumente folgend ist Lilly gerade schmerzlich auf die Nase gefallen. Solanezumab war schon einmal in einer Studie gescheitert. Im zweiten Anlauf hatte es die Firma in einem früheren Krankheitsstadium versucht. Inzwischen wird der Antikörper sogar an völlig symptomlosen Patienten ausprobiert. Bei Menschen, die entweder genetisch vorbelastet sind, oder deutliche Amyloid-Ablagerungen im Hirn haben. Bleibt die Frage, warum das Medikament in den Studien seine Wirksamkeit nicht wenigstens andeuten konnte. Die Firma Biogen hat mit ihrem Anti-Amyloid-Antikörper Aducanumab Ähnliches in sehr frühen Demenzstadien schon einmal geschafft; aber auch hier steht die Probe aufs Exempel noch aus.

Gehirnerschütterungen erhöhen das Alzheimer-Risiko

Und es gibt noch weitere Widersprüche, die nicht nur Behl an der ursprünglichen Hypothese zweifeln lassen. Wie ist zu erklären, dass jeder vierte bis dritte ältere Mensch zwar Unmengen von Amyloid im Gehirn hat, geistig aber fit und gesund ist? Und warum gibt es umgekehrt Patienten mit ausgewachsenem Morbus Alzheimer, in deren Hirn sich kaum Plaques finden? Womöglich ist die Krankheit bei der Mehrzahl der Patienten, die erst im hohen Alter erkranken, weitaus komplexer als bei den fünf Prozent familiär bedingten Früh-Dementen. Was die Strategie der Pharmaunternehmen zunehmend angreifbar macht. Denn eine Therapie, die bereits vor Einsetzen der Symptome bei einem positivem Amyloid-Befund einsetzt, läuft Gefahr, geistig gesunde Menschen mit Eiweiß über- und Kranke ohne Eiweiß unterzubehandeln.

Ebenfalls nicht recht ins Bild passt die Tatsache, dass der Morbus Alzheimer von Faktoren beeinflusst wird, die mit dem Amyloid rein gar nichts zu tun haben. So kann ein vorübergehender Verwirrungszustand bei älteren Menschen das Demenz-Risiko auf einen Schlag verdoppeln. Ursache ist wahrscheinlich eine cerebrale Entzündung und Störung des Hirnstoffwechsels. Auch häufige Gehirnerschütterungen erhöhen das Alzheimer-Risiko. Ähnliches gilt für einen vorübergehenden Herzstillstand. Ganz besonders stark scheinen die klassischen Herz-Kreislaufrisikofaktoren ins Gewicht zu schlagen: Patienten mit einer ausgeprägten Atherosklerose haben laut Studien ein dreimal so hohes Alzheimer-Risiko. Auch deshalb wird die erfolgreiche Behandlung von Bluthochdruck und hohen Cholesterinwerten dafür verantwortlich gemacht, dass das Demenz- und Alzheimer-Risiko in den letzten 40 Jahren um 20 beziehungsweise 12 Prozent gesunken ist. Und nicht zu vergessen: Der wichtigste Alzheimer-Risikofaktor ist immer noch das Alter.

Viele Wege führen in die Demenz

„Das Amyloid allein kann es nicht sein“, glaubt Oliver Peters, der Leiter der Gedächtnissprechstunde an der Berliner Charité. „Wahrscheinlich spielen abhängig nach Stadium auch andere Mechanismen eine Rolle.“ Dem Psychiater und Geriater Michael Hüll vom Zentrum für Psychiatrie Emmendingen gilt das Eiweiß deshalb nur als ein Risikofaktor von vielen. „In die Demenz führen verschiedene Wege.“ Durchblutungsstörungen, Hirnschädigungen, Entzündungen und der Alterungsprozess verbünden sich nach dieser Theorie, um Synapsen und Nervenzellen schließlich gemeinsam zu attackieren. Und das Amyloid ebnet ihnen oft den Weg, weil es zum Zerstörungsprozess häufig entscheidend beiträgt. Schließlich haben Menschen, die dank einer Mutation weniger Amyloid-Beta herstellen ein deutlich geringeres Alzheimer-Risiko.

Für die Pharmaindustrie wären damit weitere Enttäuschungen programmiert. „Ich glaube nicht, dass es für den Morbus Alzheimer die eine globale Lösung oder die eine Superpille gibt “, sagt Hüll. Die Therapie der Zukunft beruht seiner Meinung nach eher aus einem Cocktail von Maßnahmen, individuell zusammengemischt nach den jeweils beim Patienten involvierten Krankheitsmechanismen.

Die gute Nachricht: Die Demenz wäre damit für die meisten auch kein unentrinnbarer Schicksalsschlag. Sondern man könnte ihm durch ein gesundes, geistig reges Leben tatsächlich entgegenwirken.