Jürgen Leippert, ein bedeutender Vertreter des expressiven Realismus, stellt bis zum 24. Mai 2016 im Bezirksrathaus Degerloch aus Foto: Lichtgut/Piechowski

Sein Atelier ist mittendrin in der Altstadt. Jürgen Leippert ist ein Szene- und Grenzgänger mit guten Freunden aus dem Milieu. Jetzt haben sie ihn zum Verkaufen nach Degerloch geschickt. Halbwelt trifft Halbhöhe? Allein von der Rente kann einer nicht leben, der immer gegen den Zeitgeist angemalt hat.

Stuttgart - „Rentenstelle“ steht an der einen Tür des Bezirksrathauses Degerloch, „Bürgerservice Restmüllsäcke“ an der anderen. Davor hat man in einem Abstand von etwa einem Meter Stellwände für die Kunst aufgebaut.

An beiden Wandseiten hängen Ölbilder des vor 72 Jahren in Bad Cannstatt geborenen Jürgen Leippert, dessen Rente so niedrig ist, dass am Ende des Monats wenig Geld für Restmüllsäcke bleibt. Oft wird der Mützenträger mit den flinken Augen als „Altstadtmaler“ bezeichnet, als der Toulouse-Lautrec des Städtles – seine Arbeit aber beschränkt sich nicht auf Separees, auf die Melancholie, die Einsamkeit und das Elend im Rotlichtviertel. Seine Landschaftsbilder und Großstadtstudien sind eindringliche Kompositionen aus Realität und Fantasie. Oft hat er sie zigfach übermalt, so dass zentimeterdicke Schichten reliefartig eine fast dreidimensionale Wirkung erzeugen.

Wahre Schönheit findet er in Falten und Furchen

Leippert, der an diesem Vernissage-Abend einen Gast nach dem anderen auf die Wange küsst, ob junge Dame oder älterer Herr, ist ein Freigeist und expressiver Realist. Mit seiner Kunst ist er nie dem Mainstream gefolgt. Er gehört nicht zu jenen Malern, die Frauen auf eine so unterwürfige Weise porträtieren, dass sie um zehn Jahre jünger aussehen. Schöntrinken oder schönmalen ist nicht sein Ding. Wahre Schönheit findet er in Falten, Furchen, in den Spuren eines gelebten Lebens. Fast ist es so, als könne man den Charakter der gemalten Menschen in Leipperts Farben riechen.

Die Zahl der Farbtuben, die er in über 50 Jahren ausgedrückt hat, geht in die Zehntausende. Seit Gründung der Künstlersozialkasse hat er dort eingezahlt – und bekommt doch nur wenige Hundert Euro Rente. Wenn er über die Leiden des alten Malers spricht, der jeden Tag wie besessen ins Atelier geht, weil die Kunst, die ihn antreibt, keine Rücksicht auf sein Alter nimmt, kehren die Worte seines Lehrmeisters zurück.

Mit 18 Jahren hatte Leippert Privatstunden beim großen Alfred Lehmann in Berlin genommen. Heute weiß er, dass dessen Warnung berechtigt war. „Wenn Sie Maler werden wollen“, hatte Lehmann gesagt, „müssen Sie bereit sein, zur Not den Kitt aus den Fenstern zu essen.“

Ala Heiler, zweimal Zweiter beim Songcontest, spielt

Leippert ist zu allem bereit. Erstmals ist er auch bereit für Degerloch. Viele seiner Freunde aus der Altstadt und des Bohnenviertels sind zur Vernissage in dem 2006 renovierten Rathaus von Degerloch gekommen, wo sie auf Bürger stoßen, die so lichtdurchflutet und ersprießlich wirken wie das Ambiente des historischen Gebäudes.

Ala Heiler, der in den 80ern beim Eurovision Song Contest mit der Band Wind zweimal Zweiter wurde, performt den Song, den er für seinen Freund Jürgen geschrieben hat.

Die strahlende Bezirksvorsteherin Brigitte Kunath-Scheffold freut sich über den Andrang unterschiedlicher Menschen, darüber, dass die Idee zu dieser für die Halb- und Ganzhöhe ungewöhnlichen Ausstellung im Brett im Bohnenviertel geboren ist, tief im Kessel unten. Nur einmal strauchelt die Hausherrin, als sie den Laudator Thomas Maier als Thomas Müller begrüßt. Der Galerist beschwert sich umgehend, ehe er eine anrührende Rede über den Maler hält, dem es nie ums Prestige gegangen sei. Ausdrücklich werden die Besucher darauf hingewiesen, dass es sich hier um eine Verkaufsausstellung handelt (bis zum 24. Mai).

Älterwerden ist für ihn „Mist“

Der Erlös geht an eine gute Sache – an einen geniale Beobachter, an ein Urgestein der Kunstszene. „Hunderte von Porträts“ hat er schon gemalt, etwa den Berliner Ehrenbürger Heinz Berggruen im Auftrag des Senats. In Paris, Berlin, Amsterdam und New York war er unterwegs, hat Metropolen im Neongewimmel „geradezu inhaliert“.

Wenn man ihn im Vernissage-Gedränge von Degerloch sucht, muss man nur nach draußen gehen, wo der Raucher filterloser Franzosenzigaretten nach kurzen Abständen immer wieder steht. „Das Älterwerden ist ein Mist“, gibt er unumwunden zu – mit Schönreden und Schönmalen fängt er jetzt auch nicht mehr an. In allen Bereichen lasse „es“ nach, wenn man älter werde, sagt er. Doch die Alternative sei nicht verlockend.

Im Städtle, erzählt er, wird bald der vegane Imbiss Xond von Fanta-Manager Bär Läsker eröffnet. Das sei wohl nichts für ihn. Die Zeit vorm Tod heißt Leben, weiß er. Der Maler hat noch viel vor, will noch viel erleben. Gesund sterben – nein, das ist nicht sein Ding. Vielleicht hilft ihm Degerloch, dass er nicht den Kitt aus den Fenstern essen muss.