Szene aus „Sweet Charity“ Foto: Haymann

Steckenbleiben wirkt bedrohlich – ob im Fahrstuhl, im Riesenrad oder im Leben. Auf der Suche nach Liebe lässt sich das naive Animiermädchen Charity von keiner Widrigkeit beirren. Ein Happy End bleibt ihr dennoch verwehrt.

Stuttgart - Alle Jahre wieder zeigt das Alte Schauspielhaus, dass die Musicalbühne nicht nur in Stuttgart-Möhringen steht. Nach „Kiss me Kate“ (2012) und „Victor/Victoria“ (2013) bringt das Ensemble rechtzeitig vor den Feiertagen und über den Jahreswechsel hinaus das Broadway-Stück „Sweet Charity“ auf die Bühne.

Die tragikomische Geschichte eines gefallenen Mädchens auf der Suche nach Liebe hat als Erster Federico Fellini in seinem Oscar-prämierten Schwarz-Weiß-Film „Die Nächte der Cabiria“ (1957) erzählt. Anrührend und mit groteskem Übermut verkörperte Giulietta Masina darin die römische Prostituierte Cabiria.

Als Musical-Fassung und unter dem Titel „Sweet Charity“ kam die von Neil Simon adaptierte Story 1966 an den Broadway. Aus der Dirne wurde ein Animiermädchen, aus den gespenstisch dunklen Außenbezirken Roms das pulsierende New York. Die Dialoge stammen von Dorothy Fields. Die zwischen Jazz- und Big-Band-Sound changierende Musik komponierte Cy Coleman. Hits wie „Big Spender“ und der von Disco-Klängen durchsetzte Tanz „Rich Man’s Frug“ machen den wilden, aufbegehrenden Zeitgeist der 1960er Jahre hörbar – mit pulsierenden Rhythmen und elektronisch verstärkt. Dass in diesen Jahren James Bond auf die Kinoleinwand kam, klingelt in den Ohren.

Die im Alten Schauspielhaus in Stuttgart auf Deutsch gesprochene und gesungene Version von „Sweet Charity“ nimmt deutlich Bezug auf die jüngere Broadway-Fassung aus dem Jahr 2005 mit Christina Applegate in der Titelrolle. Wie diese trägt Maja Sikora als Stuttgarter Charity ein rotes Trägerkleid zur blonden Frisur. Und auch einige Bühnenbild-Lösungen knüpfen an die New Yorker Produktion an, etwa die Fahrstuhl-Szene. Nicht aber der Einfall des Bühnenbildners Dietmar Teßmann, die Kulisse aus fahr- und wendbaren Gassenwänden dynamisch zu nutzen. Von vorne wolkenkratzerhohe Reklametafeln, rücklings wahlweise Garderobe, Stadtarchitektur oder Club, sorgen die Gassenwände für rasche Szenenwechsel und das richtige Tempo.

Das stimmt nicht bei jedem Akteur. Insbesondere die Hauptdarstellerin Maja Sikora wirkt mit ihrer aufgesetzten Sprechweise, ihrer klangvollen, aber gleichförmigen Musical-Stimme und ihren allzu laxen Bewegungen oft wie eine Hampelmannpuppe, die vom Geschehen überrollt wird und mehr Girlie als eine naive Seele verkörpert.

Was ihr fehlt, merkt man spätestens beim Auftritt der Rosie. Silke Muriel Fischer, die in dem Stück auch als Grande Dame Ursula und Auskunftskraft überzeugt, macht mit wenigen Gesten und keckem Blick deutlich, wie verführerisch Unbedarftheit sein kann. Ebenso stark: Maryanne Kelly als Club-Mutter Nickie. Charitys vier Kolleginnen geben immerhin eine Ahnung davon, wie es ist, im Bling-Bling des Milieus gefangen zu sein.

Die männlichen Parts zeigen, dass leichte Muse und echte Schauspielkunst zusammenpassen. Luigi Scarano stattet seine Rolle als Filmstar Vittorio mit eleganter Selbstironie und dandyhaftem Weltschmerz aus. Als schmerbäuchiger Club-Betreiber Hermann trifft er den feinen Grat zwischen Abzocker und einem im Grund anständigen Kerl. Leichtfüßig verkörpert Harald Pilar von Pilchau den braven Oscar. Grimassen schneidend und umherturnend, als habe er statt Knochen Gummi im Leib, verrät er im feststeckenden Fahrstuhl, im defekten Riesenrad und später bei der Rücknahme seines Heiratsantrags seine Ticks und Ängste, ohne seine Figur der Lächerlichkeit preiszugeben.

Insgesamt vermisst man sowohl bei der live auf der Bühne gespielten Musik (Leitung: Niclas Ramdohr) wie bei den Tanzeinlagen (Choreografie: Andrea Heil) ein wechselvolles Spiel mit Verzögerung und Beschleunigung. Etwas mehr innere und äußere Spannung hätte der Inszenierung gutgetan.

Nächste Vorstellungen: 16. bis 20. Dezember, 22., 23., 25. bis 27. Dezember, 29. bis 31. Dezember. Jeweils 20 Uhr, am 31. Dezember zusätzlich um 16 Uhr. Weitere Termine im Januar. Karten: 07 11 / 2 27 70 22.

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