Für Sport ist es nie zu spät. Die Bewegung stärkt die Gelenke, die Knochen, das Herz und das Gehirn. Wichtig ist, jeden Tag etwas zu tun: Auf einem Bein stehen oder tanzen Foto: dpa

Wie bleibt man auch im Alter sicher auf den Beinen? Mit gezieltem Muskeltraining, sagen amerikanische Altersforscher. Hierzulande raten Experten: Kraft allein reicht nicht aus, um bis ins hohe Alter beweglich zu bleiben.

Stuttgart - Wenn Senioren bis ins hohe Alter sich sicher auf den Beinen halten wollen, dann sollten sie gezielt ihre Beinmuskulatur trainieren. So verkündeten es unlängst US-amerikanische Forscher in den Medien. Doch was genau ist mit „gezieltem Beinmuskeltraining“ nur gemeint? Das hat sich auch Frau Lichter gefragt, als sie den Artikel in unserer Zeitung las. Frau Lichter ist 89 Jahre alt, heißt in Wirklichkeit anders, und würde sich gern bewegen. Aber der Körper macht nicht mehr so mit: Der Ischiasnerv war gereizt, dann kam ein Sehnenriss in der Schulter dazu. Die Rückenschmerzen, die einsetzten, waren nur eine logische Folge: „Vermutlich hat sich durch das verkrampfte Liegen und Sitzen ein Wirbel verschoben“, schreibt sie in einem Brief. Und nun komme eben diese Muskelschwäche. Ohne Rollator, sagt die Dame, käme sie nicht weit.

Krafttraining, Ausdauertraining, Balance

Solche Krankengeschichten hört Clemens Becker häufig. Der Altersforscher ist Chefarzt der Geriatrischen Rehabilitationsklinik des Robert-Bosch-Krankenhauses Stuttgart. Dorthin kommen die Menschen, die nach Krankheiten oder OPs wieder fit gemacht werden sollen für ein möglichst selbstständiges Leben. Das geht allerdings nur über drei Komponente: Krafttraining, Ausdauertraining sowie Balance.

Grundsätzlich nimmt im Alter die Fitness biologisch bedingt weiter ab: So schwindet die Knochendichte und die Muskeln. Im Vergleich zu einem 30-Jährigen hat die Muskelmasse bei einem 70-Jährigen um schon 20 Prozent abgenommen. Der gleiche Wert gilt für die Gehirndurchblutung. Die Augen werden schlechter, bei Dämmerung erkennt man weniger. Und weil sich viele im Alter nicht mehr viel bewegen, nimmt die Leistungs- und Reaktionsfähigkeit ab.

Gehgeschwindigkeit ist ein Gradmesser

Hinzu kommt, dass viele ältere Menschen auf Medikamente angewiesen sind, die sich im Körper anreichern können, weil die Ausscheidungsfunktion der Nieren nachgelassen hat, der Körperfettanteil dagegen zunimmt. Die Wirkstoffe etwa von Schlafmitteln brauchen also länger, bis sie wieder abgebaut sind. „Auch das führt dazu, dass die Körperbeherrschung abnimmt und Ältere unsicher stehen und gehen lässt“, so Becker.

Mit einfachen Übungen lässt sich die eigene Beweglichkeit auf die Probe stellen: Vom Stuhl aufstehen, ohne die Arme zu Hilfe zu nehmen, sich aufrichten und wieder hinsetzen. Diese Übung fünfmal zügig wiederholen. Um die Balance zu trainieren sollte man sich zehn Sekunden auf ein Bein stellen. Auch die Gehgeschwindigkeit ist ein Gradmesser: Zehn Meter sollte man in weniger als zehn Sekunden gelaufen sein.

Um zu prüfen, wie gut sich seine Patienten auf den Beinen halten können, schickt er sie aufs Laufband: Ein Apparat mit einer Aufhängung samt Klettergurt, der den Senioren angelegt wird. Falls ein Tritt danebengeht, können die Patienten aufgefangen werden. Und jeder gerät ins Straucheln – wenn Clemens Becker das Laufband, auf dem die Patienten schreiten, plötzlich nach links oder Rechts ausscheren lässt. „Es ist wichtig zu sehen, wie die Patienten versuchen, diesen Stolperer auszugleichen und in die Balance finden.“ Gelingt das nicht oder nur schlecht, sollte man dringend gegensteuern.

Tanzstunden, Nordic Walking, Qigong

Doch im Alltag ist es oft schwer, die Forschungsergebnisse in die Lebenswelt der Älteren zu bringen. Zwar gibt es Sportkurse für Senioren, die beispielsweise Krankenkassen oder Wohlfahrtsverbände anbieten. Und auch Kommunen haben Programme entwickelt – so die Stadt Stuttgart mit ihrem Angebot „fit ab 50“ (www.stuttgart.de/fit-ab-50). Gut geeignet sind auch Tanzstunden, Nordic Walking und Qigong. Das ist nicht jedermanns Sache, vor allem nicht, wenn man wie die Leserin Lichter auf den Rollator angewiesen ist. Sie probiert es daher mit Gymnastik zu Hause: Sie legt sich auf den Rücken und strampelt mit den Beinen, als würde sie Radfahren. „Ich bin gespannt, wie lange es braucht, bis die Kraft in den Beinen zurückkommt.“

Wer obendrein wie die ältere Dame mit Schmerzen zu kämpfen hat, sollte mit dem Hausarzt über geeignete Medikamente sprechen, sagt der Altersforscher Becker. „Später, wenn sich die Muskulatur weiter entwickelt hat, werden auch die Schmerzen abnehmen.“ Wichtig ist es, jeden Tag etwas zu tun. Nur mit regelmäßiger Bewegung lässt sich dem Muskelschwund entgegenwirken.

Ideen dafür hat das Team um Clemens Becker zu einem Programm zusammengestellt, das Ältere dazu animieren soll, mehr Bewegung in ihren Alltag zu integrieren.

Life-Programm in zwei Stuttgarter Stadtteilen

Die Vorlage für dieses Life-Programm (für „Lifestyle Integrated Functional Excerise Program“) stammt aus Australien und hat sich in Studien bewährt: Die Beweglichkeit und Standhaftigkeit der Senioren hat um ein Drittel zugenommen.

Und das, weil die Senioren beispielsweise beim Zähneputzen mal nur auf einem Bein gestanden sind, das andere hoch- und runterbewegt haben. Schon das stärkt die Oberschenkelmuskulatur. Oder sie haben in der Küche das Besteck in die unterste Schublade geräumt – sodass sie für jede Gabel in die Hocke gehen müssen. Eine weitere Aufgabe: Vorwärts über eine Getränkekiste steigen. Oder beim Kaffeekochen auf den Zehenspitzen stehen, dann wieder auf den Fersen.

Derzeit wird das Life-Programm in zwei Stuttgarter Stadtteilen mit Senioren ab 70 Jahren unter Anleitung getestet. Die Broschüre mit den Übungen ist im Druck. Bald, so hofft Becker, wird das Programm über eine Smartphone-App abzurufen sein. Und es wird an einem Programm für Jüngere gearbeitet: „Das sind anspruchsvollerer Übungen für die Generation 60 Plus.“ Je früher trainiert wird, umso standhafter und gehsicherer ist man im Alter.