Die Charlottenstraße war 1919 viel schmaler als heute: Im rechten Gebäude (heute ist hier ein Hochhaus) befindet sich eine Automaten-Gaststätte. Klicken Sie sich durch weitere Postkarten-Motive aus Stuttgart. Foto: Gebrüder Metz

Nächster Halt in unserer Erinnerungsserie: Charlottenplatz! Das fast 100 Jahre alte Foto davon sieht aus, als stamme es aus einer anderen Stadt. Erika Lanz hat es dem Stuttgart-Album geschickt – mit weiteren Karten, die vom legendären Tübinger Verlag Metz stammen.

Stuttgart - Die Straßenbahn der Linie 5 muss warten – erst darf der Kutscher mit Fässern und Kisten auf dem Pferdewagen passieren. Die Charlottenstraße, auf der sich diese Szene von 1919 abspielt, sieht aus, als sei sie nur eine kleine Seitenstraße. Heute ist sie wesentlich breiter. Ist das wirklich Stuttgart? Alles scheint sich verändert zu haben – nicht nur die Passanten, die lange dunkle Kleider (die Damen) und Hüte (die Männer) tragen. Heute gehen die meisten Menschen in Jeans auf die Straße – damals wirkte die Kleidung schwerer, festlicher, unpraktischer. Auf dem Foto des Charlottenplatzes scheint nur ein Gebäude so zu sein, wie es heute noch ist, nämlich das Haus in der oberen Bildmitte am Olgaplatz, in dem sich in unseren Tagen ein Supermarkt befindet.

„Automat“ steht auf dem rechten vorderen Gebäude, dem Charlottenbau, an dessen Stelle sich heute ein Hochhaus befindet. Nein, es gab damals noch keine Flipper und einarmige Banditen – nicht das Automatenspiel ist gemeint. Es handelt sich um eine Automaten-Gaststätte, die in dieser Zeit beliebt waren. Wer ein „Zehnerle“ einwarf, bekam Bier, Limonade, belegte Brötchen oder Kuchen aus dem Automaten-Büfett. Den Stuttgartern gefiel es, wenn dank moderner Technik ein genau festgelegter Strahl die Gläser füllte. Automaten-Gaststätten gab es außerdem auf dem alten Postplatz, beim Rathaus und auf der Schlossstraße.

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Der nach der letzten Königin von Württemberg benannte Charlottenplatz war damals noch ein Platz mit Bäumen und einem Brunnen – kein vielgeschossiger und hektischer Verkehrsknotenpunkt mit Quer- und Längslinien, mit Stadtautobahn und Schienen. Im Krieg ist der Charlottenbau zerstört worden. 1963 begann Schwabenbräu damit, hier ein Hochhaus mit elf Stockwerken zu errichten. In den 1980ern hat die Brauerei das 43 Meter hohe Bauwerk verkauft – an einen Geschäftsmann aus dem Schwarzwald, der nicht öffentlich bekannt ist. Kein Geheimnis dagegen ist die Vorgeschichte des markanten Elfgeschossers. An dieser Stelle befand sich bis ins Jahr 1915 das Kriegsministerium von Württemberg.

Auf der Facebook-Seite des Stuttgart-Albums zählt der Charlottenplatz von 1919 zu den Fotos mit den meisten Klicks. „Wenn man ein Bild von heute daneben hält, bekommt man einen Kulturschock“, schreibt Harald Bauer. „Stuttgart hatte mal richtig Flair“, kommentiert Harald Heimbach. Und Erika Lanz, die uns das Foto geschickt hat, meint: „Der Verkehr und der Bau einer verkehrsgerechten Metropole haben die Städte ihres Charmes beraubt, den Rest hat der Krieg besorgt.“ Die Aufnahme vom Charlottenplatz stammt vom Tübinger Unternehmen der Gebrüder Metz, die 1896 damit begannen, Postkarten herzustellen. Sie beschäftigten Fotografen, die halb Europa bereisten. Die Firma besaß eine Drehleiter, um zu den besten Perspektiven zu kommen. Die SSB haben eine Metz-Serie vor einigen Jahren neu aufgelegt. Nach dem Konkurs der Tübinger Firma hat das Haus der Geschichte 1991 das Archiv mit Zehntausenden von Aufnahmen übernommen.

Auch bei den Fotos vom Schlossplatz 1905 und vom Wilhelmsbau 1927, die das Stuttgart-Album von Erika Lanz bekommen hat, handelt es sich um Metz-Karten. Etliche Album-Leser wundern sich im Internet, dass es schon 1927 ein vegetarisches Restaurant beim Wilhelmsbau gab, wie auf dem Foto zu sehen ist. Anette Ahr konnte aufklären: „Als Begründer der vegetarischen Bewegung in Deutschland gilt Gustav Struve, der von 1805 bis 1870 lebte.“ In Stuttgart habe er 1868 einen vegetarischen Verein mitgegründet. Eine Stadt zwischen Automaten-Bier und fleischlosem Essen. Für Überraschungen ist das alte Stuttgart immer wieder gut.

Das „Stuttgart-Album“ ist als Buch im Silberburg-Verlag erschienen.