Samuel Fitwi Sibhatu gelang die lebensgefährliche Flucht aus Eritrea über das Mittelmeer. Nun ist er Deutschlands bester Crossläufer und am Samstag in Sindelfingen Favorit auf den DM-Titel.
Stuttgart - Es ist ein atemberaubender Weg ins Nationaltrikot mit dem Adler. Samuel Fitwi Sibhatu verließ als Siebzehnjähriger sein Heimatland Eritrea. Inzwischen stürmt er für den Deutschen Leichtathletik-Verband über Straßen, Bahn und durchs Gelände. „Mein Traum sind die Olympischen Spiele“, sagt der 24-Jährige.
„Frei sein“ war sein Ziel
Als Junge war er zu Fuß oder mit dem Fahrrad in die Schule gekommen. Sein Vater war nach seiner Flucht nach Saudi- Arabien wieder zurückgekehrt. Auch der 17-jährige Samuel wollte weg aus der Diktatur seines Landes. „Frei leben“ hieß sein Ziel. Zusammen mit vier Gleichaltrigen machte er sich auf die Flucht – eine einzige Odyssee durch fünf Länder, per Auto, Bus, Boot, Schiff und Zug. Aus Eritrea, über Äthiopien, den Sudan, Libyen, Italien und Frankreich landeten sie schließlich in Köln.
5000 Dollar musste Fitwi Sibhatu für seine Flucht an Schlepperbanden bezahlen, ein Onkel in Israel unterstützte ihn dabei. „Auf dem Mittelmeer war’s schon sehr gefährlich“, erinnert er sich an einige heikle Situationen. 100 Flüchtlinge drängten sich im überfüllten Boot, das immer wieder zu kentern drohte. Die Frauen waren oben, die Männer unten am Boden. Mit Eimern schöpften sie das eindringende Wasser ab. Zehn Leute aßen Nudeln aus einem Topf.
Zwölf Wochen Flucht unter Lebensgefahr
Nach zwölfwöchiger Flucht landete der Afrikaner in Stadtkyll, einem 1500 Einwohner zählenden Luftkurort in Rheinland-Pfalz. Eine deutsche Familie hat ihn aufgenommen. Zusammen mit 18 Personen lebt er seitdem unter einem Dach und erfährt jede Unterstützung.
„Mensch, Samuel, du hast ganz viel Talent“, sagte ihm ein Sportlehrer, der ihn beim Coopertest erstmals über eine Kunststoffbahn schickte. Vier Kilometer in zwölf Minuten, das schaffen hierzulande nur wenige. Es war der Start für Fitwi Sibhatus Laufkarriere – mit 20 Jahren. Im Trikot der LG Vulkaneifel stürmte er zu zwei deutschen U-23-Titeln, und nachdem er 2018 problemlos die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte, war der Weg für ihn auch auf internationaler Ebene frei.
Deutschkurse sind der Schlüssel
Deutschkurse zum Erlernen der Sprache waren der Schlüssel für die Integration in und um den Sport. „Das ist ja unglaublich“, erkannte der Mann mit den Stehhaaren seine Möglichkeiten, als er bei der Cross-EM in Tilsburg (Holland) U-23-Vize-Europameister wurde.
Sein Trainer Yannick Duppich schreibt die Trainingspläne aus der Ferne. Duppich lebt und studiert in den USA, sein Vater Klaus betreut Fitwi Sibhatu vor Ort. Im Dezember vergangenen Jahres war Samuel Fitwi Sibhatu in Lissabon als Sechster bereits bester deutscher Crossläufer und konnte Weltklasseläufer wie Filip Ingebrigtsen oder Isaac Kimeli hinter sich lassen.
In Sindelfingen ist er Favorit
Alle zehn Tage telefoniert er nach Eritrea, um von seinen sportlichen Erfolgen zu erzählen. Diese Telefonate sind möglich, seit die lange verfeindeten Länder Eritrea und Äthiopien Frieden geschlossen haben. Auch die Eltern können es kaum glauben, welchen Weg ihr Sohn in Deutschland eingeschlagen hat.
„Sie sagen, ich sei der Favorit“, sagt er über seine Chancen bei den deutschen Crossmeisterschaften in Sindelfingen am Samstag. Allerdings sind Fitwi Sibhatus Ziele längst höher gesteckt. Ende August möchte er unterm Eiffelturm in Paris bei den Europameisterschaften für Deutschland laufen, entweder 10 000 Meter auf der Bahn oder im Halbmarathon auf der Straße. Seine Bestzeiten (28:11 Minuten und 62:34 Minuten) liegen bereits unter der jeweiligen Norm. Verhältnismäßig zurückhaltend gibt er sich zu einem Start Anfang August bei den Olympischen Spiele in Tokio. „Das ist vielleicht noch etwas zu hoch für mich“, sagt er. Aber bei den Olympischen Spielen in Paris in vier Jahren soll es dann so weit sein.
Das langfristige Ziel? Olympia!
Samuel Fitiwi Sibhatu ist kein Profiläufer. Er hat eine Lehre als Maler und Lackierer begonnen. Wenn er nicht seine wöchentlichen 120 Kilometer abspult, tapeziert er Wände oder streicht Türen und Fenster. Sein Chef unterstützt ihn, gewährt ihm Freiheiten, die der sympathische junge Mann genießt. Dafür hat er seinen Kontinent verlassen. Dass er aufgrund seiner dunklen Hautfarbe bislang keinerlei Probleme erfahren hat, gibt ihm tatsächlich das Gefühl, in Freiheit zu leben – und zu laufen.