Eine Szene aus dem Film „Alphabet“. Foto: Pandorafilm

Erwin Wagenhofer untersucht in seiner Dokumentation „Alphabet“, wieso Kinder die Lust am Lernen verlieren. Am Sonntag kommt der Dokumentarfilmer nach Stuttgart.

Filmkritik und Trailer zum Kinofilm "Alphabet"

Stuttgart - In „Feed the World“ (2005) führte der österreichische Dokumentarfilmer Erwin Wagenhofer vor, wie pervertiert die industrielle Nahrungsmittelproduktion ist, in „Let’s Make Money“ (2008) untersuchte er pünktlich zur Krise den Irrsinn des internationalen Finanzsystems. Nun widmet er sich einem weiteren brisanten Thema: Bildung – und warum so viele Kinder die Lust daran verlieren. Seine Prämisse: „98 Prozent aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch 2 Prozent.“

» Trailer zum Kinofilm „Alphabet“

» Kino Stuttgart: Wann und wo „Alphabet" läuft, finden Sie hier.

Wer die Kritik des Fernseh-Philosophen Richard David Precht am Bildungssystem kennt und den Alltag deutscher G-8-Schüler, ahnt, was kommt. Wagenhofer beginnt, wo es noch viel drastischer zugeht: Chinesische Schüler lernen rund um die Uhr, haben keine Zeit für Hobbys, kommen kaum zum schlafen, sind Sklaven einer Bildungsmaschine und überehrgeiziger Eltern, für die nur der erste Platz zählt. Der chinesische Erziehungswissenschaftler Yang Dongping erklärt, China sei traditionell ein Land der Gemeinschaft gewesen – und die aktuelle Entwicklung ein 180-Grad-Schwenk hin zur totalen Konkurrenz. Wagenhofer hat einen Deutschen nach China begleitet: Andreas Schleicher, auch genannt Mr. Pisa, weil er den gleichnamigen Schulleistungsvergleich koordiniert. Schleicher deutet zwar an, dass Konkurrenz zu Überlastungen führen könne, hält sich ansonsten aber, ganz Politiker, bedeckt – deutliche Worte zum Zustand des Bildungssystems kommen ihm nicht über die Lippen.

Nun fächert Wagenhofer das Bild auf. Beim Führungskräfte-Wettbewerb „CEO of the Future“ bekennen aufstrebende junge Leute freimütig, dass für sie allein Leistung zählt und sie für die Karriere auf alles andere verzichten würden. Thomas Sattelberger, früher Personalvorstand bei Daimler-Benz, Lufthansa und der Telekom, ist davon überzeugt, dass reines Leistungsdenken die Kreativität verkümmern lässt, die Entscheider dringend brauchen. Patrick aus Dortmund, der „nur“ einen Hauptschulabschluss hat, schuftet in Zeitarbeit nachts für einen Sicherheitsdienst und hat weder Zeit noch Mittel, aus seiner Unterschichtperspektive herauszukommen. Der Spanier Pablo Pineda kam mit dem Downsyndrom zur Welt und hat gegen viele Widerstände einen Hochschulabschluss gemacht. Ein Experiment mit Babys zeigt, dass der Mensch wissbegierig geboren wird. Wagenhofer lässt den nicht unumstrittenen Neurobiologen Gerald Hüther zu Wort kommen, der sehr plastisch erklärt, was Bildung sein sollte und in Deutschland nicht ist. Und im französischen Atelier des Pädagogen Arno Stern (89), einem „Malort“ für Kinder, kommt ein Beweis: Stern zeigt Bilder unterschiedlicher Jahrgänge und kommentiert, was augenfällig ist – seit 2005 werden die Bilder funktionaler und weniger intuitiv. Sterns Sohn André ist ohne Schule aufgewachsen, hat sich selbst gebildet und ist nun Gitarrenbaumeister. Man kann Wagenhofer vorwerfen, dass es sich hier um ein Einzelbeispiel handelt, das wegen des speziellen, sehr zugewandten Elternhauses sicher ein Sonderfall ist. Genauso kann man kritisieren, dass er es versäumt hat, weitere fürs Bildungssystem verantwortliche Politiker mit seinen Erkenntnissen zu konfrontieren. Womöglich hat er es getan und – siehe Schleicher – keine klaren Äußerungen bekommen.

Die Hinweise für eine Schieflage sind indes so erdrückend, dass man ihm beides nachsehen kann. Wagenhofer rührt an die Grundfrage, wie wir leben wollen. Sein Fazit: Bildung ist kein Selbstzweck mehr, sondern längst ein Mittel zur Normierung funktionierender Rädchen im Wirtschaftsprozess. Soll sich daran etwas ändern, müssten Eltern, Schüler, Wissenschaftler, mündige Bürger auf die Barrikaden gehen.

Der Dokumentarfilmer Erwin Wagenhofer. Foto: Pandorafilm
Erwin Wagenhofer kommt an diesem Sonntag zur Matinee um 11.40 Uhr ins Stuttgarter Kino Delphi und beantwortet anschließend Fragen.

Was sonst noch im Kino in Stuttgart läuft, finden Sie in unserem Kino-Programm.