Nicole Lorenz aus dem Rems-Murr-Kreis hat Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Die Alleinerziehende wird künstlich beatmet, kann nur über ihre Augen kommunizieren. Ihr Sohn (15) lebt bei ihr. Vom Krankenbett aus kämpft sie um mehr Unterstützung.
Die Frau, die noch alles konnte, findet sich überall in der Wohnung. Man sieht sie sich rekeln am Strand, die langen Beine im Sand. Man sieht sie mit der besten Freundin feiern und um die Wette strahlen. Man sieht sie ihren Sohn fest an sich drückend. Man sieht die beiden Hand in Hand, die Mutter und den Jungen, hinter sich das Meer. Die gerahmten Fotos verströmen Leichtigkeit. Eine Pflegekraft hat sie aufgehängt. Der heutige Alltag von Nicole Lorenz, gerade 43 Jahre alt geworden, ist ein anderer. Und auch der ihres Sohnes, der bei ihr lebt.
Er war elf Jahre alt, als seine Mutter im November 2019 die Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) bekam. Die tückische Krankheit führt zu kompletter Muskellähmung und ist bislang unheilbar. Sie schreitet bei manchen langsam voran. Bei Nicole Lorenz jedoch nimmt sie einen schnellen Verlauf. Im April 2019 hatte sie die ersten Symptome: Sie fühlte sich schwach und humpelte leicht. Inzwischen ist sie fast vollständig gelähmt.
Die Angstzustände sind besser geworden
Es ist ein Mittwochnachmittag im März. Nicole Lorenz liegt in ihrem Pflegebett. Man hört das rhythmische Geräusch der Beatmungsmaschine, ein Schlauch führt zu ihrem Hals. Nur den Kopf kann sie noch nach links und rechts bewegen. Sprechen kann sie seit einem Jahr nicht mehr, aber sich mitteilen sehr wohl. Sie spricht über ihre Augen, steuert mit ihren Pupillen ein Tablet mit Sprachfunktion. Und es gibt Worte, für die sie keine elektronische Hilfe braucht. Dann schaut sie einen an und ihr Augenaufschlag reicht aus. Dann versteht das Gegenüber, was sie sagen will: „Ja“, „Nein“, „Danke“, „Adieu“.
Seit vergangenen Oktober wird Nicole Lorenz beatmet. Sie hatte sich mit dem Coronavirus infiziert und lag einige Wochen im Koma. Als sie auf der Intensivstation mit Beatmungsschlauch aufwachte, bekam sie Panik. Nun war eingetreten, wovor sie sich lange gefürchtet hatte: dass ihr Leben von einer Maschine abhängt. Die Angstzustände sind inzwischen besser geworden.
Nachts kann sie keine Hilfe holen
Am Tag lenkt sie sich viel mit Netflix und Instagram ab. Doch die Nächte sind schwer zu ertragen. Sie liegt dann nicht auf dem Rücken, sondern auf der Seite – ohne Tablet, über das sie Hilfe holen könnte. „Ich werde von Schmerzen in der Hüfte wach und kann mich nicht bemerkbar machen“, erklärt sie. „Ich hoffe dann, dass die Pflegerin irgendwann kommt und mich auf die andere Seite dreht.“ Seit Monaten wartet sie auf einen Sensor für die Nacht, den man an der Stirn anbringt und über den sie den Alarm auslösen könnte. „Ich brauche den Sensor dringend“, schreibt Nicole Lorenz. Doch weder die Krankenkasse noch die Eingliederungshilfe fühlten sich zuständig.
Sie ist blass. „Ich war lange nicht mehr draußen.“ Sie vermisst das: den Duft des Frühlings zu riechen, Wind auf der Haut zu spüren. Sie vermisst, etwas zu schmecken. Spaghetti mit Tomatensoße ist ihr Lieblingsgericht gewesen. Sie vermisst Süßes: Schokolade. Und Ungesundes: ihre Zigaretten. Sie habe leidenschaftlich gerne geraucht. Vor allem aber fehlt ihr das Sprechen. Sie hat so gerne geredet und gelacht. „Das war am Anfang eine Katastrophe“, schreibt sie. Ein Jahr ist es her, das sie die Fähigkeit verlor. Sie geht geschickt mit dem Sprachcomputer um, der erkennt, welche Buchstaben und Worte sie fixiert. Aber das Schreiben kostet enorme Konzentration. „Es ist schwer. Man möchte schnell etwas sagen, und bis man es geschrieben hat, dauert es.“ Ihr Sohn sei nicht so geduldig. Aber welcher Teenager ist das schon?
Die Lebensmittel für den Sohn bestellt sie online
Der 15-Jährige ist gerade in der Schule. Er ist der Hauptgrund für den Besuch am Pflegebett. Die kranke Mutter fühlt sich alleingelassen. „Ich wünsche mir mehr Unterstützung, vor allem für meinen Sohn“, schreibt sie mit den Augen. Was fehle, sei eine Hilfe im Haushalt, die für ihn da ist. Sie wünscht sich jemanden, der regelmäßig für ihn kocht, einkauft, die Wäsche macht. Die zwei Stunden Haushaltshilfe die Woche, die sie für sich selbst erkämpft hat, habe dafür keine Zeit und keinen Auftrag. Da sie künstlich ernährt wird, muss niemand für sie kochen.
Als ihr Sohn noch ein Kind war und sie gesund, hat Nicole Lorenz ihn verwöhnt. Nicht mal sein Zimmer musste er aufräumen. Heute tut sie, was ihr noch möglich ist: Seine Lebensmittel bestellt sie online. Sie kauft viel Tiefkühlkost. Damit er sich leicht etwas warm machen kann. Das Gymnasium ihres Sohnes sei zum Glück entgegenkommend. Sie darf ihn per E-Mail entschuldigen. Doch für anderes sucht sie Lösungen: Wer geht mit ihm im Akutfall zum Arzt? Wer unterschreibt dort die Datenschutzerklärung? Aber auch: Wie kann sie bestimmen, wo er einmal leben wird, wenn sie nicht mehr ist?
Für eine Haushaltshilfe ist der Sohn angeblich zu alt
Krankenkassen zahlen eine Haushaltshilfe, wenn das sorgende Elternteil krank ausfällt – aber nur für jüngere Kinder, nicht mehr für 15-Jährige. Von diesen wird vom Gesetzgeber offenbar erwartet, dass sie es alleine schaffen, sich zu verpflegen und zu versorgen – neben der Schule und den Sorgen um Mutter oder Vater. Nicole Lorenz fühlt sich von den Behörden „im Stich gelassen“. Denn auch das für die Familie zuständige Jugendamt sieht bislang keine Möglichkeit, Hilfe im Haushalt zu finanzieren. Um diese Art der Unterstützung zu gewähren, müssten Kinder bis zum 14. Lebensjahr im Haushalt wohnen, schreibt die Pressestelle des Landratsamts des Rems-Murr-Kreises, in dem die Alleinerziehende und ihr Sohn leben.
„Uns ist bewusst, dass die Situation für die Familie sehr schwierig und belastend ist“, heißt es in der E-Mail. Was die betroffene Familie beantragen könne, seien Hilfen zur Erziehung, „sofern sie der Sohn möchte“. Auch der sorgerechtsberechtigte Vater (der sich nach Angaben der Mutter nicht kümmere) sei aber bei Entscheidungen einzubeziehen. Das Jugendamt arbeite „selbstverständlich weiter daran, Jugendhilfe entsprechend der gesetzlichen Möglichkeiten und mit Einbezug der Betroffenen auf den Weg zu bringen“. Anfang April kommt eine Mitarbeiterin zu der Alleinerziehenden nach Hause, um mit ihr und mit ihrem Sohn sprechen. Auch seine Wünsche sollen gehört werden. Nicole Lorenz hofft, dass der Besuch eine positive Wende bringt.
„Mein Sohn gibt mir den Sinn weiterzumachen“, schreibt die Mutter
Um kurz nach 16 Uhr läutet es an der Tür. „Ich bin’s“, hört man eine junge, männliche Stimme durch die Sprechanlage. Wenig später schlüpft ein Jugendlicher durch die Wohnungstür – und verschwindet schnell in seinem Zimmer, die Tür bleibt offen. Den Besuch scheint er nicht registriert zu haben. Vielleicht, weil es normal für ihn ist. Er ist nie allein mit seiner Mutter. Es ist immer auch eine Pflegerin da.
„Wie war es in der Schule?“, fragt die weibliche Computerstimme aus dem Tablet, die seiner Mutter gehört. „Anstrengend“, antwortet der 15-Jährige, wirft einen kurzen Blick in den Kühlschrank, dann schwingt er sich zu ihr aufs Pflegebett. Lange sitzt er dort nicht. Als seine Mutter Alarm auslöst, weil sich mal wieder zu viel Sekret angesammelt hat, sodass die Pflegerin zum Absaugen herbeieilt, zieht er sich zurück in die Küche. Auf Fragen antwortet er einsilbig. Wer versteht das nicht? Zwei Monate war er beim Vater. Dann, vor rund einem Jahr, stand er wieder bei der Mutter vor der Tür. Er wollte lieber bei ihr leben. „Mein Sohn gibt mir den Sinn weiterzumachen“, schreibt Nicole Lorenz.
Projekt Pausentaste für Kinder und Jugendliche
Haushaltshilfe
Wenn die Mutter oder der Vater krank ausfallen, haben Familien, in denen Kinder unter zwölf Jahren leben Anspruch auf eine Haushaltshilfe. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten für eine Familienpflegerin oder eine Dorfhelferin. Die AOK finanziert diese laut Caritas Deutschland länger – bis zur Altersgrenze von 14 Jahren.
Pausentaste
Wer anderen hilft, braucht selbst mal Hilfe – unter diesem Motto steht das Portal Pausentaste, das sich an Kinder und Jugendliche richtet, die sich um ihre Familien kümmern und Hilfsangebote für diese zusammenfasst. Die Initiative arbeitet mit der „Nummer gegen Kummer“ zusammen, das unter Telefon 116 111 erreichbar ist. Mehr zu dem Projekt im Netz unter pausentaste.de.