Francesca Melandri zeichnet ein Gesellschaftspanorama voller Kontraste und Widersprüche. Foto: Elisabetta Claudio/Wagenbach Verlag

Wo kommt der junge Flüchtling eigentlich her, der eines Tages klingelt? Francesca Melandris Roman „Alle, außer mir“ taucht in die italienische Kolonialgeschichte hinab und findet darin den Schlüssel zur Gegenwart.

Stuttgart - Alle, außer mir“ ist das Lebensmotto Attilio Profetis. Wie Forrest Gump ist er überall dort zu finden, wo Geschichte geschrieben wird, allerdings jener Teil davon, der gerne verdrängt wird. Er ist ein Glücksritter, der sich in den finstersten Zonen des letzten Jahrhunderts herumtreibt und es mit Schlauheit immer wieder schafft, davonzukommen, wo viele, viele andere auf der Strecke bleiben. Alle, außer ihm. In seinem Leben, das er so beharrlich verteidigt, ist alles angelegt, was man zum Verständnis nicht nur der italienischen Gegenwart braucht. Es muss nur noch entfaltet werden. Und genau das passiert in Francesca Melandris Roman „Alle, außer mir“, der epochal nicht nur hinsichtlich seiner aktuellen gesellschaftlichen Relevanz genannt zu werden verdient, sondern auch weil er das okkulte Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart auf verschiedensten Ebenen verfolgt.

Ein verdrängtes Geschöpf dieser Vergangenheit taucht eines Tages vor der Wohnungstür von Attilio Profetis Tochter Ilaria auf und konfrontiert sie damit, mehr Geschwister zu haben, als ihr bisher bewusst war. Kein ganz neuer Umstand in ihrem Leben, schon einmal offenbarte der Vater: „Ihr seid nicht zu dritt, sondern zu viert.“ Nun also zeigt sich, sie sind nicht zu viert, sondern zu fünft. Der Fünfte, inzwischen gestorben, soll der Vater des jungen Mannes gewesen sein, der nun in Ilarias Treppenhaus sitzt. Dieser hat jene Odyssee hinter sich, gegen die die italienische Rechte bereits 2010, dem Handlungszeitpunkt, mit allen Mitteln agitiert: den lebensgefährlichen, von Brutalitäten, Schikanen und Qualen aller Art gesäumten Weg durch Wüsten, Flüchtlingslager, Gefängnisse, Mittelmeer und Behördenwillkür.

Die faschistischen Bande halten auch in der Nachkriegszeit

Der neue Verwandte kommt aus Äthiopien, Teil der früheren Kolonie Italienisch-Ostafrika, und je mehr Ilaria von seiner Herkunft erfährt, umso tiefer dringt sie in ein früheres, bisher verborgen gebliebenes Leben ihres Vaters ein. Und es zeigt sich, dass dieser gemäß seinem Grundsatz „Alle, außer mir“ mindestens so viele Leben besitzt wie eine Katze.

Als junges Schwarzhemd half Attilio Profeti dem Duce in den dreißiger Jahren, das Römische Imperium wiederzuerrichten. Er gehörte zu den Scharen von Hormon- und Heldenflausen getriebenen Abenteurern, die zu einem erbarmungslosen Eroberungsfeldzug ausziehen, nach Afrika, „das jungfräuliche Land, das entjungfert werden wollte“. Eine Äthiopierin wird zur großen Liebe seines Lebens, er lebt mit ihr zusammen im sogenannten Madamato – und verfasst gleichzeitig als Adlatus eines faschistischen Anthropologen Traktate gegen die Vermischung der Rassen: „Denn in der Kreuzung einer höheren Rasse, also unserer, mit einer niederen Rasse, also die der Neger, werden nicht die Niederen auf das Niveau der Höheren gehoben, sondern umgekehrt.“

Attilio Profeti verstrickt sich in Mussolinis Kriegsverbrechen, Giftgasangriffe und Konzentrationslager, denen hunderttausende Äthiopier zum Opfer fielen. Was ihn nicht daran hindert, sich später zum Partisanen zu stilisieren, gemäß der italienischen Logik, wonach die zwei Jahre deutscher Besatzung das Land entweder in wehrlose Opfer oder Helden des Widerstands aufgeteilt hätten. Doch die faschistischen Bande halten. Seine Kriegsverbindungen machen ihn zur rechten Hand der politischen und gesellschaftlichen Elite, deren schmutzige Machenschaften später in den „Mani pulite“ genannten Ermittlungen auffliegen.

Für die erste Reihe in den großen Verbrechen hat es nicht gereicht, aber für einen komfortablen Platz am Rande. Und mit Beharrlichkeit und Geschick hat der Bahnwärtersohn seinem anstrengenden Bigamistenleben schließlich einen ansehnlichen Wohlstand abgetrotzt, von dem seine Kinder profitieren. Attilio Profeti ist ein Opportunist, aber trotz all seiner dunklen Geheimnisse nicht ohne sympathische Züge, ein gemischter Charakter.

Italien erscheint als Avantgarde der populistischen Entwicklungen unserer Tage

In schonungsloser Klarheit beleuchten die historischen Rückblenden auf die namenlosen Gräuel der italienischen Kolonialgeschichte abstoßende profitable Kontinuitäten. Berlusconis postkoloniale Deals mit Gaddafi, um afrikanische Flüchtlinge von Italien fernzuhalten, seine expliziten Bezugnahmen auf den Mussolini-Kult, die ihm 2008 den Wahlsieg eintrugen, die Korrumpierung der politischen und zivilgesellschaftlichen Kultur, als gelte es die Demokratie von der Wurzel ausrotten – Dinge, die Italien als Avantgarde der populistischen Entwicklungenunserer Tage erscheinen lassen.

Doch Melandri exerziert keine Exempel. Behutsam und mit feinstem erzählerischen Fingerspitzengefühl folgt sie den Fäden der komplizierten Familienstruktur der Profetis bis in die vielfältigen Verflechtungen des zeitgenössischen Alltags, geprägt von Parkplatznot, Gentrifizierung, Migration und exotischen Aromen im Treppenhaus. So ist dieser Roman kein Pamphlet sondern ein Gesellschaftspanorama voller Kontraste und Widersprüche. Melandri spiegelt die faschistische Kolonialjustiz in den Verfahren, die heute über das Schicksal von Asylbewerbern entscheiden. Aber sie lässt auch den italienischen Rassismus in den spannungsreichen Verhältnissen äthiopischer Volksgruppen untereinander wiederkehren.

Und immer wieder muss die von ihren Freunden bisweilen als weiblicher Robespierre verspottete Gesinnungsethikerin Ilaria feststellen, wie tief und vielfältig sie selbst teilhat, an dem, was sie ablehnt. Ausgerechnet mit einem Abgeordneten aus dem feindlichen rechten Lager lebt sie gewissermaßen in einem ideologischen und sexuellen Madamato. Und wenn sie ihre privaten Beziehungen spielen lässt, um den Asylantrag ihres neu hinzugewonnen äthiopischen Verwandten zu befördern – ist das so verschieden von dem Anruf eines Ministerpräsidenten bei der Polizeibehörde, um die Freilassung einer ihm verbundenen minderjährigen marokkanischen Prostituierten zu erreichen?

Solche Korrespondenzen, Irritationen und Übergänge heben Melandris Buch über den Meinungskampf aktueller politischer Debatten weit hinaus. Von seiner hohen literarischen Warte aus macht es in der genealogischen Wirrnis einer Familie die großen Linien sichtbar, in denen die Geschichte unser Leben durchdringt. Sie überdauern, gewisser, als es der hartnäckige Überlebenstrieb Attilio Profetis vermag.

Francesca Melandri: Alle, außer mir. Roman. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Wagenbach, Berlin. 608 Seiten, 26 Euro.