Zwischen Zirkuskuppeln und Katakomben: Alexander Kluge Foto: /Jürgen Bauer

Alexander Kluge, der an diesem Montag seinen 90. Geburtstag feiert, ist einer der vielseitigsten Intellektuellen in der Manege des Geistes. In zwei neuen Büchern bietet er noch einmal alles auf, was seine Kunst vermag.

Stuttgart - Vielleicht hätte aus dem Arztsohn und Juristen Alexander Klugeauch ein Landrat in der hessischen Provinz werden können, mit CDU-Hintergrund, dessen gut dotierte Planstelle ihm genug Zeit gelassen hätte, als Heimatschriftsteller einen Lokalverlag mit Geschichten zu beliefern. Dieses Gedankenspiel findet sich irgendwo im Erzähllabyrinth des neuen Werkes, das eindrucksvoll dokumentiert, welchen Weg der vor neunzig Jahren in Halberstadt Geborene stattdessen eingeschlagen hat: den eines Autors mit Frankfurter-Schule-Hintergrund, eines Gefühlskraftwerkers und Filmemachers, eines Trümmerchronisten, der ein Chaos von Anekdoten, Gedanken, Gesprächsfetzen, Beobachtungen, Nachrichten und Erfindungen zu einer Zusammenhangskunde über den Zustand der Welt bändigt.

 

Wie ein „Zirkusdirektor des Zufalls“ – mit diesem Titel belegte der Philosoph Walter Benjamin ein ihm bekanntes Mitglied des Bauhauses: Vollendet sei dessen Kunst dann, zitiert Kluge, wenn die Zufälle sich noch ganz in ihrem wilden oder halbwilden Zustand befänden und doch dem Gesetz der Form, das unter der Zirkuskuppel gilt, einfügen. Stellt man diesen Zirkusdirektor des Zufalls nun noch in die Nachfolge mittelalterlicher Kommentatoren, die antiken Überlieferungen neues Leben einhauchten, hat man beisammen, was den jüngsten Streich des Chaosdompteurs auszeichnet. Denn dieser besteht aus zwei Bänden: einem „Buch der Kommentare“ und einem „Zirkus Kommentar“.

Seltsame Dämonen

„Kommentare sind kein lineares Narrativ“, schreibt Kluge. „Sie berichten vertikal. Sie sind Bergwerke, Katakomben.“ Das klingt zunächst einmal dunkel. Wer hinabsteigt ins unterirdische Verbindungssystem, der tastet sich voran, stolpert über Rätselhaftes, stößt sich an Unverständlichem. Und doch ist es ein unwiderstehliches intellektuelles Abenteuer, die Tunnel, Gänge und Kavernen dieses Zwillingswerkes zu erkunden.

Der Einstieg erfolgt an einem von Corona verdüsterten Advent 2020. Wir blicken einer Virologin über die Schulter, die in der Abendstunde vor Heiligabend unter dem Elektronenmikroskop über das wüste Aussehen eines soeben aus der Lungenzelle ausgebrochenen Virus erschrickt: „Blick auf einen seltsamen Dämon, der in keinem Sagenbuch der Antike verzeichnet ist.“ Jedem stehen Bilder dieses stachligen Dings mittlerweile vor Augen, aber so hat man es noch nicht betrachtet: Viren seien zur Vergesellschaftung verurteilt, sagt die Wissenschaftlerin, nur als Pulk seien sie intelligent und in der Lage, durch einen permanenten Reaktions- und Mutationsprozess Jahrmillionen in immer neuer Gestalt zu überleben. Entlang einer Zufallskette reihen sich auch die Kommentare. Womit wir schon bei der Landesverteidigung wären, denn zum Schutz vor dem viralen Angreifer mussten im letzten Winter Bundeswehrsoldaten in Altersheime abgeordnet werden. Überhaupt ist der Winter auch nicht mehr das, die schlaffe Witterung legt sich über das Gemüt wie eine „Schlammperiode des Geistes“.

Engel im Ruhestand

Aus anderen Gründen hat der Hund von Familie Kluge daran zu knabbern, als Mitglied der Familie an Heiligabend unter den Tisch des Herrn verbannt zu sein, irgendwie ist auch daran Corona schuld. Ein Stückchen weiter legt der Ministerialrat Berndt aus dem Reichspropagandaministerium die Gedanken des Führers zum Weihnachtsfest 1942 dar. Und so kommt eines zu anderen: die Erinnerung an den geistigen Aufbruch eines Dezemberabends 1968 mit der Erörterung der Frage, was eigentlich aus beamteten Engeln wird, wenn sie mit dem Jüngsten Gericht ihre Aufgabe erfüllt haben.

Durch die Kommentarkanäle, die Kluge gräbt, strömen Geräusche und Gerüche. Sie führen durch die Tiefe der Zeit und des eigenen Lebens, durch Jürgen Habermas’ letztes Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ und durch vier Jahre Trump: „Wir sitzen vor dem Geschehen wie Kinder, die einem Kasperletheater zusehen.“ Doch selbst wenn es noch einmal gut ausgegangen ist, könne es ein nächstes Mal geben, das nicht gut ausgeht. Ein sechsstimmiger Chor kommentiert die Ereignisse des 6. Januar 2021.

Magie der Korrespondenz

Wie in den illuminierten Handschriften aus der Zeit von Kluges mittelalterlichen Vorläufern ranken sich Illustrationen und QR-Codes aus den Gärten der Information des hauseigenen Web-TV durch den Text. Wehrhafte Hasen hoppeln vorbei, zum Murmeln der Pilotfische, mit dem sie über Tausende Seemeilen hinweg miteinander korrespondieren.

Kluges Werk beschwört die subversive Kraft einer Korrespondenz, die das Einzelne nicht dem Allgemeinen unterwirft. „Lesen und schreiben heißt für mich Sammeln.“ Das Bild des Ganzen ist zusammengesetzt aus lauter Einzelnem. Die beiden Kommentarbände ziehen aus der ewigen Unabgeschlossenheit des Sammelns die Summe. Katakomben und Zirkuskuppeln – sich in der Schwebe dieses schönen Widerspruchs halten zu können ist eine wahrhaft artistische Lebensleistung.

Alexander Kluge: Das Buch der Kommentare. Suhrkamp, 400 Seiten, 32 Euro.

Alexander Kluge: Zirkus Kommentar. Suhrkamp, 176 Seiten, 28 Euro.

Info

Intellektueller
Alexander Kluge, am 14. Februar 1932 in Halberstadt geboren, wurde zu Beginn der 1960er Jahre gleichzeitig als Schriftsteller und Filmemacher bekannt. Er las bei der Gruppe 47, war Mitinitiator des Oberhausener Manifests, das den Neuen Deutschen Film begründete. 1966 erhielt er als erster Deutscher der Nachkriegszeit den Silbernen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig für seinen Film „Abschied von gestern“. Ab 1988 war Alexander Kluge verantwortlich für die sogenannten Kulturfenster im Privatfernsehen.

Bücher
Mit Oskar Negt schrieb er „Öffentlichkeit und Erfahrung“ und „Geschichte und Eigensinn“, Bücher, die die Kritische Theorie der Frankfurter Schule fortsetzen. Für sein literarisches Werk, darunter „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“, „Chronik der Gefühle“, „Kongs große Stunde“, erhielt er zahlreiche Preise.