Bob Dylan. Foto: Sony

Der Mann, der immer schon da war, träumt vom Untergang der „Titanic“: Eine Annäherung an Bob Dylans Album „Tempest“.

Der Mann auf der Brücke ist eingeschlagen – eingelullt von den sanft wogenden Wellen und einem Irish-Folk-Walzer, den Auswanderer in Southampton mit an Bord des Schiffes gebracht haben könnten. Und während das Orchester im Ballsaal Lieder von längst vergangener Liebe spielt und sich die besser bezahlenden Passagiere im Licht der Kronleuchter im Kreis drehen, träumt er davon, dass die „Titanic“ untergeht.

Auf den Sturm, den Bob Dylan im Titel der Untergangsballade „Tempest“ ankündigt, wartet man vergeblich. Der wachhabende Offizier träumt immer noch ruhig vor sich hin, als bereits die ersten Leichen im kalten Wasser des Nordatlantiks treiben, die Welt auf diesem großen, mächtigen Schiff in Aufruhr ist, die Reise, die in ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten führen sollte, vorbei ist. Und als ob er den Schlafenden nicht wecken wollte, protokolliert Dylan die Ereignisse auf der „Titanic“ mit zärtlich krächzender Stimme, wechselt nie den Tonfall, wiegt begleitet von Geige, Akkordeon und Steel-Guitar im Dreivierteltakt in Sicherheit. Er tut so, als ob es nicht Aufregendes zu berichten gäbe, schaut fröhlich fatalistisch dem Untergang der Zivilisation, dem Ende des goldenen Zeitalters zu und wird zum teilnahmslosen Chronisten der Katastrophe.

Die knapp 14 Minuten durchhaltende Ballade „Tempest“, deren lakonischer Vortrag ihr eine besondere Schwere gibt, steht im Zentrum des 35. Studioalbums Bob Dylans. Die Platte gibt sich im Vergleich zu dem Album „Together Through Life“ (2009), das Dylan erstmals in seiner nun schon fünfzig Jahre andauernden Veröffentlichungsgeschichte Platz eins in den US-Charts einbrachte, angenehm altmodisch, rekurriert auf Blues- und Folktraditionen, die weit in das vorige Jahrhundert zurückführen. Dabei sind kaum fassbare Songs entstanden.

Kein anderer Song auf dieser Platte erzählt so poetisch verdichtet, setzt einen so einer Flut an Bildern, Assoziationen, Konnotationen aus wie „Tempest“ selbst

Schon der Nummer „Duquesne Whistle“, die das Album mit einem unermüdlichen Walkingbass, einer wimmernden Orgel und vergnügten Blueslicks eröffnet, wohnt das Ende inne („Listen to that Duquesne whistle blowing / Blowing like it’s gonna sweep my world away“). In „Early Roman Kings“ variiert er den wuchtigen Blues von Muddy Waters’ „Manish Boy“, umarmt die Dunkelheit in Songs wie im teuflischen „Tin Angel“ oder in „Pay In Blood“, grübelt in „Scarlet Town“ über den Zustand von Amerika („Uncle Tom’s still working for Uncle Bill“).

Dylan versucht sich aber auch in der perfiden Schmonzette „Soon After Midnight“ als romantischer Crooner oder singt in „Roll On John“, dem letzten Stück auf dem Album, eine Ode auf John Lennon, die da besonders ergreifend ist, wenn er den Anfang aus dem Beatles-Großwerk „A Day In The Life“ zitiert: „I heard the news today, oh boy!“

Doch kein anderer Song auf dieser Platte erzählt so poetisch verdichtet, setzt einen so einer Flut an Bildern, Assoziationen, Konnotationen aus wie „Tempest“ selbst. Das beginnt schon bei dem Titel des Stücks, der auf Shakespeares letztes Theaterstück „The Tempest“ (Der Sturm) zurückgeht, das Schiffbrüchige von einer neuen Weltordnung träumen lässt. Und wer außer Dylan hätte es gewagt, die lyrische Aneignung des Katastrophenstoffs in einen Walzer zu packen? Und obwohl der Song in seiner gleichmütigen, teilnahmslosen Inszenierung wie der Gegenentwurf zu James Camerons Actionspektakel „Titanic“ erscheint, das von großen Gefühlen und Effekten gar nicht genug bekommen kann, eignet sich Dylan trotzdem Camerons Personal an. Man begegnet Leo (DiCaprio), der die Geschehnisse in Zeichnungen festhalten möchte („Leo took his sketchbook / He was often so inclined / He closed his eyes and painted / The scenery in his mind“). Man trifft auf eine Überlebende (Rose), die später vom Untergang berichten wird („She told a sad, sad story / Of the great ship that went down“).

45 Strophen mutet einem Bob Dylan zu. Seelenruhig, nie die Fassung verlierend, schildert er die Ereignisse auf der „Titanic“, protokolliert nüchtern das Chaos und die Panik („Passengers were flying / Backward, forward, far and fast / They mumbled, fumbled, and tumbled / Each one more weary than the last“).

Tempest“ steht in der Tradition von Homer, der in der „Ilias“ die Heere und Schiffe vor der Küste Trojas auflistet

Er zählt Heldentaten, Feigheiten und mit einer unheimlichen Zärtlichkeit Einzelschicksale auf, die sich an Bord der „Titanic“ ereignen. Da ist Mr. Astor, der gerade noch seine Frau geküsst hat, da ist Jim Dandy, der nie schwimmen gelernt hat. Da sind die Armen, die Reichen, die Spieler, Priester, Bordellbesitzer. Bob Dylans „Tempest“ könnte damit auch in den Fundus der unendlichen Listen aufgenommen werden, den Umberto Eco vor einigen Jahren zusammengetragen hat. „Tempest“ steht in der Tradition von Homer, der in der „Ilias“ die Heere und Schiffe vor der Küste Trojas auflistet, von Hieronymus Boschs Triptychon „Der Garten der Lüste“ oder von Alfred Döblins Schlachthofschilderung aus „Berlin Alexanderplatz“– Werke, die trotz ihrer Detailfülle suggerieren, dass das Sichtbare und das Unsagbare jenseits der Schilderung, jenseits des Bilderrahmens weitergeht.

Es ließen sich in diesem Song noch zahlreiche Verweise finden. Und die sogenannten Dylanologen werden noch viel Zeit damit verbringen, all die Quellen offenzulegen, die der 71-Jährige in „Tempest“ verarbeitet hat. Sie werden alle Bezüge zu James Camerons Katastrophenfilm entschlüsseln und Dylan in die Tradition jener Barden stellen, die schon kurz nach der „Titanic“-Katastrophe diese mit Liedern besangen. Sie werden das Untergangsmotiv auch auf frühere Dylan-Nummern wie „Talkin’ Bear Mountain Picnic Massacre Blues“ und vielleicht auch „A Hard Rain’s a-Gonna Fall“ beziehen – und natürlich zum Ergebnis kommen, dass es in „Tempest“ nicht nur um den Untergang der „Titanic“ geht, dass man das Stück politisch, mythologisch, religiös deuten kann. Und Dylan wird wie immer dazu schweigen. „They waited at the landing / And they tried to understand / But there is no understanding / For the judgement of God’s hand“, heißt es am Ende von „Tempest“: Sie versuchten zu verstehen, doch es gab nichts zu verstehen.